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“Für die Nazis waren wir Kriminelle”

Gebannt und schockiert haben im Laufe der Jahre Hunderte Schülerinnen und Schüler den Erzählungen von Bogdan Bartnikowski gelauscht. Zur Überwindung der Sprachbarriere bedarf es zwar eines Dolmetschers, doch der intensive Blickkontakt, den der 93-Jährige mit seinem Gegenüber herstellt, führt direkt in die Vergangenheit: Bartnikowski hat das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebt.

Bartnikowski erzählt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), was Schüler bei den Treffen mit ihm meist als erstes interessiert, und zwar die Frage nach dem „warum“. Wie kann es sein, dass ein Zwölfjähriger zusammen mit seiner Mutter in ein Konzentrationslager deportiert wurde? „Die Schüler wollen wissen, wie es dazu kommen konnte, dass ein Kind aus seinem Elternhaus vertrieben wird und sich in dieser Hölle wiederfindet“, sagt er.

Für seine Verdienste um die Verständigung zwischen Polen und Deutschland wurde Bartnikowski kürzlich von der Stadt Wiesbaden mit der Bürgermedaille in Silber geehrt. Der evangelische Verein „Zeichen der Hoffnung“ hat seit 2016 insgesamt 45 Zeitzeugengespräche an Schulen und weiteren Bildungseinrichtungen mit ihm und anderen organisiert, teilte das Evangelische Dekanat Wiesbaden mit.

Als Kind, geboren am 24. Januar 1932 in Warschau, hatte Bartnikowski mehrere Jahre deutscher Besatzung erlebt. Er war Augenzeuge, wie Menschen auf offener Straße exekutiert wurden. Seine Deportation sei für ihn nicht unvermittelt gekommen, sagt er. Dem Abtransport ging der Warschauer Aufstand voraus, der bewaffnete Widerstand der Polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer. Nach den Kämpfen wollten sich Nazis rächen, die Stadt „dem Erdboden gleichmachen und die Einwohner Warschaus massenhaft erschießen, unabhängig davon, ob sie aktiv am Aufstand beteiligt waren oder nicht“.

„Ich wurde zusammen mit etwa 150 polnischen Kindern und Jugendlichen, die alle etwa zehn bis 15 Jahre alt waren, ins Männerlager gebracht“, erzählt Bartnikowski von einer Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Sein „Vergehen“ aus Sicht der Nationalsozialisten war es, Pole zu sein. „Ich berichte vom Martyrium der polnischen Bevölkerung“, betont er. Die Nazis im KZ nannten die Kinder „kleine polnische Banditen“ und sprachen die Jungen auch so an. „Für sie waren wir Kriminelle.“

Gerade einmal rund 100 Meter entfernt waren die Mütter der Jungen untergebracht. Dennoch: „Wir wussten über Monate nichts von ihnen, wie es ihnen geht, ob sie überhaupt noch im KZ sind.“ Allein durch einen Zufall konnte Bartnikowski seine Mutter sehen, noch bevor beide später zur Trümmerräumung nach Berlin deportiert wurden. Zusammen mit anderen Kindern musste er immer wieder Wagen, in denen etwa die Kleidung ermordeter Gefangener gestapelt war, zwischen den Sektoren des Lagers transportieren, einmal lautete das Ziel Frauenlager. „Ich konnte meine Mutter nach mehr als drei Monaten wieder in die Arme schließen – nur kurz, wir durften nicht entdeckt werden. Für mich war das der erste glückliche Tag im Konzentrationslager“, erinnert er sich.

Der KZ-Überlebende hat seine Erfahrungen und auch die seiner Freunde in Büchern festgehalten. „Wir Kinder von Auschwitz hatten einen Verein gegründet und uns ausgetauscht über unsere Erlebnisse“, berichtet Bartnikowski. Daraus entstand „Eine Kindheit hinterm Stacheldraht“, das bereits 1969 erschienen ist und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. In „Zurück in Auschwitz“, das der Autor im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, habe er versucht festzuhalten, wie die Erlebnisse den Überlebenden noch immer präsent sind: „Wir sind nicht mehr in Auschwitz, aber Auschwitz ist in uns drin. Und dieses Auschwitz bleibt bis zum Lebensende in uns haften.“

Trotz all seiner Erlebnisse betont Bartnikowski: „Man darf den Hass und die Rachegefühle nicht in sich kultivieren, die zerfressen einen von innen.“ Allerdings habe er einen weiten Weg bis zu diesem Empfinden zurücklegen müssen.

Das vereinte Europa ist für ihn von besonderer Bedeutung, er selbst lege sein Augenmerk auf die Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen, sagt Bartnikowski. „Ich habe im Laufe meines Lebens Systeme kommen und fallen sehen. Meine Beobachtung ist: Wenn die Menschheit überhaupt eine Überlebenschance hat, dann nur, wenn sie miteinander in Eintracht und Frieden lebt.“