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Freiheit ist manchmal „einfach anstregend“

Einmal im Jahr laden die lippische, rheinische und westfälische Landeskirche zur Politikertagung. Diesmal ging es um Martin Luther und seinen Einfluss auf die heutige Gesellschaft

SCHWERTE – Martin Luther hat nach Ansicht des ehemaligen Verfassungsrichters Udo Di Fabio auf seine Weise das Freiheitsverständnis der Moderne mitgeprägt – auch wenn er selbst kein Mensch der Moderne war. Indem er den Glauben aus institutionellen Verflechungen löste und wieder ausschließlich an die Bibel verwies, bereitete der Reformator den Weg für eine Selbstbegrenzung des Menschen. Damit müsse der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, führte der Jurist bei der diesjährigen Politikertagung der drei evangelischen Kirchen in Nordrhein-Westfalen in Haus Villigst in Schwerte aus.
Die Fabio, der an der Universität Bonn Staatsrecht lehrt, betonte den modernen Freiheitsbegriff Martin Luthers. Freiheit sei nicht die Abstreifung aller Bindungen, sondern die Möglichkeit, sich selbst an bestimmte Regeln zu binden. Demnach dürfe der Mitmensch niemals ausschließlich als Mittel zum Zweck angesehen werden, über das man verfügen kann, sondern als eigenständiges Subjekt. „Wenn der Mensch zum Objekt wird, ist immer die Menschenwürde angetastet“, sagte Di Fabio.
Der Fremde müsse auch in seiner „Sperrigkeit“ als Subjekt geachtet werden, betonte der Rechtswissenschaftler mit Blick auf die Herausforderungen durch die vielen Flüchtlinge. Werte wie Freiheit und Toleranz müsse die Gesellschaft den Fremden nahebringen, indem sie sich selbst besser erkläre, forderte er. Ausdrücklich betonte Di Fabio, dass gegen jede Form des Antisemitismus „in voller Härte“ vorgegangen werden müsse.
Die tolerante und freie Gesellschaft muss nach Ansicht Di Fabios stärker mit Leben gefüllt werden, um die Demokratie vor ihren Feinden zu schützen. Die Faszination des freiheitlichen Gesellschaftssystems sei trotz der wirtschaftlichen Stärke des Westens in eine Krise geraten, warnte Di Fabio. Zugleich seien die „Herausforderer der Freiheit und Toleranz“ stärker geworden. Als Beispiele nannte der Jurist China, das noch immer eine Diktatur sei, und die Annexion der Krim durch Russland. Dass Frieden und Freiheit in Europa nicht sicher seien, zeigten auch die Entwicklungen in Polen, Ungarn und Rumänien. Selbst die USA erlebten eine tiefe kulturelle Kluft.
Die freiheitliche Demokratie bezeichnete Di Fabio als konkurrenzlos. Sie setze sich aber nicht von alleine durch, sondern müsse mit Leben gefüllt werden. „Die Faszination des westlichen Weltbildes muss wieder plastischer gemacht werden“, sagte Di Fabio „Wer für seine Identität etwas tun will, der muss sie zeigen und vorleben.“ Wer den Glauben fördern wolle, müsse ihn im Alltag zeigen.
Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, rief zu Beginn der Tagung, an der rund 120 Vertreterinnen aus Politik, Gesellschaft und Kirche teilnahmen, zu evangelischer Bescheidenheit auf. „Kirche und Glaube tun gut daran, sich nicht allzu schnell, allzu selbstsicher oder gar selbstgefällig auf der ‚richtigen‘ Seite der Geschichte zu verorten“, sagte sie.
Die Geschichte der Moderne sei eine gleichzeitige Entwicklung verschiedener religiöser und gesellschaftlicher Dynamiken. Dabei hätten gerade die unbeabsichtigten Folgen reformatorischen Handelns besonders stark und einschneidend gewirkt. In der Folge der Reformation hätten sich Formen von Freiheits- und Selbstverständnis entwickelt, die Luther nie gewollt hätte – und die  heute in der Gefahr ständen, zum Zerrbild beziehungsloser Individualität und rücksichtsloser Selbstoptimierung zu werden. Freiheit, so die Präses, sei jedoch auch kompliziert, anspruchsvoll und „einfach anstrengend“. leg/epd