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Fließende Bildwelten

Vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin ragt eine gigantische Rose in den Himmel. Die rosafarbene Blüte auf dem filigranen Stängel wirkt wie eine Liebesgabe. Seit 1993 hat die Künstlerin Isa Genzken immer wieder solch überdimensionale Rosen aus Metall für den Außenraum geschaffen. Für sie sind sie ein Symbol für Kommunikation, denn „es gibt keine andere Blume, bei der sich jeder wahnsinnig freut, wenn er sie sieht“, wie sie einmal sagte. In Berlin ist die Rose auch zum symbolischen Geburtstagsgruß für Genzken geworden: Am 27. November wird sie 75 Jahre alt und die Neue Nationalgalerie würdigt sie mit der Sonderausstellung „75/75“. In der oberen Glashalle bieten 75 Skulpturen einen Parcours durch ihr Werk.

„Isa Genzken ist eine absolute Ausnahmeerscheinung in der Gegenwartskunst, weil sie sich alle fünf bis zehn Jahre neu erfindet“, sagte Kuratorin Lisa Botti dem epd. „Sie kennt keine Hierarchien der Materialien, sie ist offen, wagt immer wieder Neues.“

In ihrem Schaffen passt Genzken sich nicht an an das, was in der Kunstwelt gerade angesagt ist. Mit ungeheurem Witz und Spott wählt sie ihr Material und ihre Themen aus, auf originelle und vielseitige Weise. Sie ist mal widersprüchlich und sperrig, laut und provozierend, aber auch nachdenklich und still.

Einer Gipskopie der Büste der schönen Ägypterin Nofretete setzt sie eine Sonnenbrille auf und kombiniert sie mit dem Abbild der Mona Lisa von Leonardo da Vinci, als konkurrierten die beiden ikonischen Frauen in einem Schönheitswettbewerb. Schaufensterpuppen treten als gespenstische „Schauspieler“ in unterschiedlichen Rollen auf, mit Masken, Helmen und befremdlichen Accessoires bewehrt, als wollten sie zu große Nähe abwehren. Genzkes Werk „Hospital“ von 2008 ist ein Kommentar auf die Katastrophe von 9/11 und den Wettbewerb für die Neubebauung von Ground Zero: ein fragiler Turm aus Rollwagen, darüber ein Holzkubus, mit grüner Gaze und bunten Plastikbändern umwickelt, oben ragen bunte Plastikblumen wie Trauerschmuck aus einem Glasgefäß, ganz unten steht ein Tablett mit leeren Schnapsgläsern – the party is over.

Die Wahl-Berlinerin Isa Genzken kam 1948 im schleswig-holsteinischen Bad Oldesloe zur Welt, studierte Malerei, Kunstgeschichte, Philosophie sowie Fotografie und Grafik, zuletzt an der Düsseldorfer Kunstakademie. Dort war sie Meisterschülerin von Gerhard Richter, dessen Partnerin und ab 1982 Ehefrau sie bis zur Scheidung 1993 war. Eine Betonstele, aus der eine Antenne ragt – aus ihrer Serie „Weltempfänger“ aus den 1980er Jahren – verweist mit dem Titel „Gerhard“ auf diese Beziehung. Deren Ende trieb die Künstlerin in eine tiefe Depression, wie sie 2016 in einem Zeitungsinterview bekannte.

Genzkens vielfältiges Werk umfasst Skulpturen, Installationen, Film und Foto, Malerei sowie Zeichnungen und Künstlerbücher. Begonnen hat sie 1976 mit einer Reihe von „Ellipsoiden“ sowie den konkaven „Hyperboloiden“: perfekt geformte farbige Holzskulpturen, die an einem oder zwei Punkten den Boden berühren und an Boote, Zahnstocher oder Speere erinnern.

Genzkens Leidenschaft für Architektur und Städte – New York und Berlin – ist unübersehbar in ihrem Werk. 2002, für die documenta 11, entwirft sie die Skulptur „New Buildings for Berlin“ aus verschachtelt arrangierten bunten Glasplatten – eine Kritik an den Bauten, die in Berlin seit den 90er Jahren emporschießen. „Fuck the Bauhaus“ heißt eine Serie von sechs Skulpturen aus dem Jahr 2000. Es sind Collagen aus Plastik, Alltagsgegenständen wie Pizzakartons, Fotos und Zeitungsausschnitten, mit denen sie sich über die puristische, ornamentfreie Perfektion des Bauhauses mokiert und sie persifliert.

Ab 2000 ändert Genzken erneut ihre Handschrift, sie benutzt für ihre wie zufällig arrangiert wirkenden Skulpturen objets trouvés, Gegenstände aus der Alltagswelt: Spielzeug, Stoffe, Grillzange, Schaufensterpuppen. Und sie baut zunehmend Alltagsmüll, abgelegte eigene Kleidung, Spiegelfolie und alte Fotos in ihre Werke ein, die sie mit Klebeband und Folie umwickelt oder wie provisorisch befestigt. Ihre Arbeiten lassen sich als Kommentar auf den Zustand von Politik und Gesellschaft lesen.

Sie gehörte früh in ihrer Karriere zu den international erfolgreichsten deutschen Künstlerinnen: Dreimal war sie auf der documenta in Kassel vertreten, fünfmal auf der Kunstbiennale in Venedig, 2007 gestaltete sie den Deutschen Pavillon. Seit 2018 gilt ihr Werk als abgeschlossen. Die Bodencollage „Untitled“ aus Zeitungen, Plastikeinkaufstüten und Fotografien, ein Kommentar auf das Ende des Kalten Krieges, den Mauerfall und den bevorstehenden ersten Golfkrieg, ist eine ihrer letzten Arbeiten.

Die Geburtstagsausstellung in ihrer Wahlheimat Berlin ist eine Hommage an die Künstlerin. Zur Eröffnung konnte Genzken, die keine Interviews mehr gibt, aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen. Die Finissage in Mies von der Rohes Kunsttempel findet an ihrem Geburtstag statt: Die Neue Nationalgalerie plant für Montag, den 27. November, eine Sonderöffnung.