Artikel teilen:

Lost Places: Warum der Verfall so fasziniert

Abenteuerlustige fühlen sich ebenso zu ihnen hingezogen wie Instagram-Fotografen: Verlassene Gebäude, verfallende Ruinen und andere “Lost Places” schlagen viele Menschen in ihren Bann.

In den Beelitz-Heilstätten bei Berlin locken Besucher mit ihrem morbiden Charme
In den Beelitz-Heilstätten bei Berlin locken Besucher mit ihrem morbiden CharmeImago / Imagebroker

Durch Brennnesseln und Dornengestrüpp führt die Route. Wege, geschweige denn Wegweiser gibt es hier keine mehr. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, kann am hügeligen Nordrand des Pfälzerwaldes die Überreste der stillgelegten Eistalbahn entdecken – wie den knapp 500 Meter langen und erstaunlich gut erhaltenen Stempelkopftunnel. Wo einst Güterzüge mit Militärgerät und Schienenbusse für die pfälzische Landbevölkerung verkehrten, erobert sich die Natur seit 1988 die Zeugnisse vergangener Ingenieurskunst zurück.

Die Tunnelportale gleichen dunklen Mäulern, verlassen stehen sie in der Wildnis. Unzählige umgestürzte Bäume blockieren die Gleise. Der Stempelkopftunnel ist ein „Lost Place“, einer von so vielen aufgegebenen verlassenen Orten, die in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen faszinieren.

Lost Places locken ganze Familien

Leerstehende Fabrikhallen, verfallende Häuser und andere Ruinen übten schon immer eine gewisse Anziehung als Spielplatz oder Ort für heimliche Treffen aus. Mittlerweile ziehen „Lost Places“ eine ganz bunt gemischte Gesellschaft an, wie Buchautor Holger Mathias Peifer aus Saarbrücken erzählt: „Manche denken, dass sie als Influencer berühmt werden, andere interessieren sich für die Gebäude, wieder andere lockt die Abenteuerlust.“ Zuweilen könne man ganze Familien treffen.

Auch Peifer selbst, der für den Verband der mittelständischen Wirtschaft tätig ist, begeistert sich für vergessene und düstere Orte. Zwei Bücher über lohnende Ziele im Saarland und in Rheinland-Pfalz hat er bereits veröffentlicht. Gerade in seiner Heimatregion gebe es unzählige davon, die Überreste einst florierender Kohle- und Stahlbetriebe beispielsweise oder die Ruinen der Westwall-Grenzbefestigungen.

Das alte Frankfurter Polizeipräsidium gilt als Lost Place
Das alte Frankfurter Polizeipräsidium gilt als Lost PlaceImago / Zoonar

Eigentlich gilt in der Szene die ungeschriebene Regel, die geografischen Koordinaten von „Lost Places“ allenfalls vertraulich weiterzugeben. Doch manche Orte sind schon lange kein Geheimtipp mehr, erst recht nicht, wenn sie sich wie das denkmalgeschützte alte Frankfurter Polizeipräsidium mitten im Zentrum einer Großstadt befinden.

Jahrelang war der Gebäudekomplex ungenutzt dem Verfall ausgesetzt. Inzwischen hat ein Investor das Gelände erworben und will es wieder instand setzen. Bis die Arbeiten beginnen, finden durch die gruseligen Gemäuer sogar geführte Touren statt. Die zweistündigen Rundgänge – „tolle Lost-Place-Fotomotive“ garantiert – kosten stolze 26 Euro pro Person und sind oft Wochen im Voraus ausgebucht. Das Polizeipräsidium sei „mitunter das beliebteste Thema bei uns im Programm“, berichtet Michelle Weise von den „Frankfurter Stadtevents“, die verschiedene Themenführungen in der Bankenmetropole im Angebot haben.

Beelitz-Heilstätten: Morbider Charme einer alten Klinik

Auch der morbide Charme der Beelitz-Heilstätten bei Berlin hat sich so weit herumgesprochen, dass mittlerweile Eintrittskarten verkauft werden. Einst wurden auf dem Gelände Lungenkranke behandelt, nach 1945 entstand dort das größte sowjetische Militärhospital außerhalb der UdSSR.

Der Besuch verfallender Gebäude ist alles andere als ungefährlich, immer wieder kommt es zu schweren Unglücken oder gar zu Todesfällen. Bei Grundstücken in Privatbesitz könnten ungebetene Gäste zudem wegen Hausfriedensbruchs belangt werden. Daher rät auch Buchautor Peifer zu Vorsicht. Persönlich hat er gute Erfahrungen damit gemacht, Eigentümer eines Geländes zu kontaktieren, wenn diese bekannt sind. Mancherorts sei er sogar durch die verfallenen Immobilien geführt worden.

Manche Lost Places werden abgerissen

„Mein Traum wäre, dass man einige der bedeutenden Stätten so sichert, dass man sie einfach besuchen kann“, wünscht sich der Saarländer. Ganz unrealistisch ist das nicht. Längst nicht alle verlassenen Orte bleiben ewig ein „Lost Place“. Zwar werden viele ungenutzte Bauwerke irgendwann abgerissen und die Grundstücke neu bebaut, aber immer wieder erstehen sie plötzlich auch in alter Pracht wieder. So geschah es mit der Völklinger Hütte, die nach der Stilllegung zum Weltkulturerbe erklärt wurde.