Sind Migranten häufiger kriminell? Nach Solingen ein noch brisanteres Thema. Einige Statistiken scheinen das nahezulegen. Doch das Thema sei zu komplex für einfache Erklärungen, findet ein Experte.
Es ist einer der ältesten Befunde in der Kriminologie, der sich mit Daten und Fakten belegen lässt: Junge Männer sind grundsätzlich häufiger kriminell als junge Frauen oder ältere Männer. Das ist wichtig zu wissen, wenn über die Frage diskutiert wird, ob Migranten häufiger kriminell sind. Denn die Antwort ist nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
Ja – die Zahl der Fälle von Straftaten mit tatverdächtigen Einwanderern ist zuletzt gestiegen, wobei Anschläge mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund wie jetzt in Solingen ja in der Statistik nur einen sehr geringen Anteil ausmachen.
Und nein – das bedeutet nicht, dass Menschen mit migrantischem Hintergrund per se häufiger kriminell werden. Denn nicht in allen Einwanderungsgruppen ist der Anteil der Fälle höher als der Anteil der Nationalitäten an der Gruppe der Zuwanderer.
Solingen und die Debatten danach hin oder her – niedriger war der Anteil bisher beispielsweise bei Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak, deutlich höher dagegen bei jenen aus Algerien, Marokko, Tunesien sowie Georgien.
“Zu behaupten, Migration wäre ein Risikofaktor für Kriminalität oder wiederholte Kriminalität, ist zu kurz gesprungen”, betont daher Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden.
Zum einen, weil es eben den Geschlechtsunterschied und die sogenannte Alters-Kriminalitäts-Kurve gibt. Viele Einwanderer sind junge Männer, und unabhängig von Nationalität und Herkunft ist das Kriminalitätsrisiko bei jungen Männern erhöht. Dahinter steht laut Rettenberger ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren: hohe Testosteronwerte; ein Bild von Männlichkeit, in dem Stärke noch immer eine große Rolle spielt; gruppendynamische Prozesse. Viele Delikte wie Raub oder Schlägereien würden aus einer Gruppendynamik heraus begangen, so der Experte.
Zum anderen berichtet er von weiteren Gründen, die Kriminalität begünstigen könnten. Dazu zählt er die oft schlechtere gesellschaftliche Teilhabe migrantischer Menschen. In Deutschland ist der Bildungserfolg stark abhängig von der Frage, woher jemand kommt. “Menschen mit Migrationshintergrund haben hier einfach schlechtere Chancen. Auf Bildung, auf einen Job, auf Geld”, betont Rettenberger. Mangelnde Teilhabe erhöhe aber das Risiko für Kriminalität.
“Daneben wissen wir aus der Kriminalitätsforschung, dass es kriminalitätsfördernd wirken kann, wenn Menschen selbst Opfer von Kriminalität und Gewalt geworden sind”, fügt er hinzu. “Victim-Offender-Overlap” nennt sich das: eine Schnittmenge, in der Betroffene zu Tätern werden können. “Es gab ja Gründe für die Menschen, aus ihren Heimatländern zu fliehen. Sie haben dort in prekären Verhältnissen gelebt und womöglich selbst Gewalt erfahren.” Dazu kämen die Erfahrungen während der Flucht, die viele Menschen traumatisiert hätten.
Kriminelles Verhalten der Kultur zuzuschreiben, hält Rettenberger daher für gefährlich: “Mit der Kulturthese begibt man sich auf sehr dünnes Eis, ich wäre da vorsichtig.” Die Daten, die es dazu gebe, seien nicht belastbar. “Wenn man ihnen nachgeht, handelt es sich oft um Rationalisierungen der Täter, die ihre Vergehen rechtfertigen mit ‘Das ist bei uns halt so’.”
Bei Kriminalität – vom Kleindelikt bis zum Terroranschlag – handele es sich um Extremverhalten, das statistisch gesehen selten vorkomme und im Wesentlichen in der Persönlichkeit des Einzelnen begründet liege. “Einen Menschen zu töten, ihn auszurauben, zu verprügeln oder zu betrügen, wird letztlich überall auf der Welt geächtet.”
Kritisch blickt der Fachmann auf die immer wieder neu aufkommenden Debatten, wenn das Thema politisch instrumentalisiert wird, um mit vermeintlich einfachen Erklärungen und Lösungen die öffentliche Meinung in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. “Mein Appell ist deshalb: Es gibt keine einfachen Lösungen, wir müssen uns das Problem genauer ansehen.”