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Experte: Auch “besonders Fromme” nicht vor Missbrauch gefeit

Vor der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg hat ein Projektteam am Freitag die Ergebnisse der sogenannten AUF-Studie zur Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt innerhalb der Landeskirche vorgestellt. 54 Betroffene hätten sich daran beteiligt, sagte der Historiker Harald Haury am Freitag bei dem in Stuttgart tagenden Kirchenparlament. Die Mehrzahl der Fälle habe sich in den 1950er Jahren ereignet, einige in den 1960ern und der letzte Fall 1974.

Die Studie habe gezeigt, dass kein kirchliches Milieu gegen das Vorkommen sexualisierter Gewalt gefeit sei, „auch nicht besonders fromme Gruppen“. Haury: „Schlichtweg gottgegeben, biblisch oder zeitlos sind weder Botschaften sexueller Befreiung, noch pietistische Keuschheitslehren.“ Aufklärung auf dem Gebiet der Sexualität könne helfen, sexualisierte Grenzüberschreitungen als solche zu erkennen. Religiöse Bildung mache kritikfähig gegenüber religiöser Autoritätsanmaßung und von ihr ausgehenden Manipulationsversuchen.

Die Psychologin Simone Korger von der Universitätsklinik Ulm empfahl der Landeskirche, kirchliche Einrichtungen bei der Erstellung und Verbesserung von Schutzkonzepten gegen sexualisierte Gewalt zu unterstützen. Dazu gehöre es etwa, personelle Ressourcen aufzustocken, zentrale Ansprechstellen zu schaffen und eine Sensibilität für Grenzverletzungen zu schaffen, so die Mitautorin der AUF-Studie.

Synodenpräsidentin Sabine Foht sagte in der Aussprache, die Kirche habe die Augen lange „vor toxischen Strukturen und dem Leid der Betroffenen“ verschlossen. Es brauche dringend Schutzkonzepte, die regelmäßig evaluiert und angepasst würden. Nach Ansicht der Synodalen Annette Sawade ist „absolute Transparenz“ nötig, um verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Die Synodale Anja Feist plädierte dafür, den Bereich der sexuellen Bildungsarbeit innerhalb der Kirche auszubauen. Sexualität dürfe nicht länger auf die Ehe reduziert werden: „Wenn wir als Kirche lernen, offen über Sexualität zu sprechen, dann ist das auch ein großer Teil der Prävention.“

Steffen Kern, Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, sagte, sexualisierte und spirituelle Gewalt gingen mitunter Hand in Hand. Auch innerhalb des Pietismus gebe es diesbezüglich „problematische Züge“. Als Beispiele nannte Kern weitgehend geschlossene Denk- und Glaubenssysteme, eine gewisse Autoritätshörigkeit, einen moralischen Rigorismus, die Tabuisierung von Sexualität und subtile Machtstrukturen. Kern: „Jedes Milieu hat seine eigenen Gefährdungen und Anfälligkeiten.“

Die Landessynode ist das Kirchenparlament für rund 1,8 Millionen Protestanten in Württemberg. Bis Samstag befasst sie sich bei ihrer Herbsttagung unter anderem mit den kirchlichen Finanzen, den Konsequenzen aus der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Menschenrechtssituation von Christen weltweit. (2887/01.12.2023)