Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt ist im vergangenen Jahr erneut deutlich gestiegen. Es gab mehr als 256.000 Opfer. Wie reagieren die Beratungsstellen darauf? Judith Rosner leitet die psychologische Beratungsstelle im Evangelischen Zentrum für Beratung in Frankfurt-Höchst. Im Interview erläutert sie die Gründe für den Anstieg und stellt Forderungen an die Politik.
Gerade haben Innenministerin Faeser und Familienministerin Paus die Zahlen der Opfer häuslicher Gewalt vorgestellt. Es gab einen Anstieg von 6,4 Prozent. Stellen Sie das auch in Ihrer Einrichtung fest?
Judith Rosner: Wir verzeichnen leider kontinuierlich hohe Zahlen. Der Bedarf an Hilfsangeboten und psychologischer Beratung im Kontext von Partnerschaftsgewalt und Gewalt in Familien ist bei uns schon seit vielen Jahren hoch.
Was sind die Gründe für den Anstieg?
Das hat mehrere Ursachen. Es liegt zum einen an einer gesellschaftlichen Entwicklung, die mehr Angst, Gewalt und Erkrankungen hervorbringt. Auch die Tatsache, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, hat einen Einfluss. Studien zeigen, dass es in Ländern ohne eine solche Schere – etwa in Skandinavien – weniger Gewalt gibt. Dies hat Auswirkungen auf die Familien und Partnerschaften ebenso wie die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Gewalterfahrungen in der eigenen Familie prägen die Kinder und lassen sie vielleicht später Konflikte wieder gewalttätig austragen.
Und auch den Einfluss der Coronapandemie merken wir immer noch. Familien mussten oft auf engem Raum zusammenleben, ohne dass sich die Familienmitglieder einen echten Ausgleich nehmen konnten.

Welche Ratschläge geben Sie betroffenen Personen?
Häusliche Gewalt findet physisch, psychisch und sexuell statt, und die Betroffenen sind je nach Schwere und Dauer der Gewalt sehr belastet bis traumatisiert. Sie brauchen erst einmal Sicherheit und Schutz und später vielleicht psychologische Beratung oder Psychotherapie zur Stabilisierung und Bewältigung des Erlebten.
In einer akuten Gewaltsituation ist es zunächst wichtig, die Polizei einzuschalten. Die Polizei ist für solche Fälle inzwischen besser aufgestellt, auch wenn es weiter gilt, Arbeit zur Sensibilisierung zu leisten. Wenn Kinder mit betroffen sind, schaltet die Polizei routinemäßig auch das Jugendamt ein. Außerdem ist es wichtig, Verletzungen ärztlich gut dokumentieren zu lassen. Denn bei einem späteren Prozess liegt die Beweislast beim Opfer.
Um sich aus der häuslichen Gewalt zu lösen, hilft es, vorübergehend in einem Frauenhaus unterzukommen. Das ist besonders für Betroffene ohne ein stabiles soziales Umfeld eine große Hilfe. Sie haben ansonsten möglicherweise keinen Zufluchtsort, an dem sie Schutz finden. Sie kommen dann in eine Spirale der Gewalt, aus der sie nicht entkommen – häufig mit Bedrohungen. Der Partner droht, die Kinder wegzunehmen oder mit dem Verlust der Aufenthaltsgenehmigung für die Frau. Das Gewaltschutzgesetz bietet auch die Möglichkeit der Wegweisung des Gewalttäters aus der Wohnung zunächst für 14 Tage und in manchen Fällen eine Wohnungszuweisung für die von Gewalt Betroffene sowie ein Näherungsverbot.
Welche Forderungen haben Sie an die Politik? Die CDU fordert von der Ampelregierung etwa eine Initiative für Frauenhäuser.
Mit einer solchen Initiative rennen sie überall offene Türen ein. Denn leider gibt es viel zu wenig Plätze für betroffene Frauen in Frauenhäusern. Finanziell abgesicherte Beratungsangebote für von Gewalt Betroffene und auch für Täter braucht es.
Ansonsten ist die Präventionsarbeit wichtig. Damit meine ich viele unterschiedliche Dinge, zum Beispiel eine diskriminierungssensible Kinder- und Jugendarbeit, gute Angebote in Sportvereinen, Kindertagesstätten und Schulen, damit Kinder in einem guten Umfeld groß werden können. Auch Angebote zur Gewaltprävention halte ich für sehr wichtig. Denn Studien zeigen: Kinder, die selbst Gewalt erfahren haben, werden später mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst gewalttätig oder Opfer von Gewalt. Belastete Familien brauchen niedrigschwellige Anlaufstellen. Armutsbekämpfung ist auch Gewaltprävention.
Wichtig ist außerdem, dass die Beratungs- und Hilfeeinrichtungen bekannt gemacht werden, damit betroffene Personen im Ernstfall wissen, an wen sie sich wenden können. Deshalb ist es entscheidend, dass Einrichtungen auf sich aufmerksam machen, zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr oder in Apotheken – überall dort, wo betroffene Personen sie entdecken können.
In der Gewaltstatistik ist auch von einem hohen Dunkelfeld die Rede.
Davon gehe ich auch aus. Leider muss man sagen: Ein Dunkelfeld wird es immer geben, auch wenn die Hilfsangebote noch so bekannt sind. Denn manche Frauen haben aufgrund massiver Drohungen zu große Angst oder befinden sich in einer psychischen Abhängigkeit zu ihrem Partner und finden nicht die Kraft, sich von ihm zu trennen.
Darunter leiden besonders die Kinder. Oft entwickeln sie Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme. Denn Mutter und Vater sind meist die wichtigsten Bindungspersonen eines Kindes. Wenn Kinder solche Gewalt miterleben müssen, prägt es ein Leben lang ihr Vertrauen in die Welt.