Herbert Weinmann ist Suchttherapeut und Seelsorger beim „Blauen Kreuz“ in Berlin. Er war selbst Alkoholiker und ist seit 35 Jahren trocken. Mit Amet Bick sprach er darüber, wie es besonders bei älteren Menschen zur Sucht kommt.
• Das ganze Leben nur hier und da mal ein Gläschen, und mit über 60 wird jemand dann zum Alkoholiker. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Solche Geschichten begegnen mir regelmäßig. Nach meiner Beobachtung gibt es drei Typen von Menschen, denen das passiert. Der erste hat immer schon getrunken, aber in Maßen. Der Druck, am nächsten Tag gepflegt und fit zur Arbeit zu gehen, hat dazu geführt, dass er sich zusammengerissen hat. Mit dem Ruhestand bricht die Kontrolle weg, er trinkt mehr und mehr.
Typ zwei hat früher nie viel getrunken, aber mit der Rente fällt sein Lebenssinn weg. Er hat sich über die Arbeit definiert. Das ist vor allem für Männer ein Problem. Wenn er dann noch keine Angehörigen in der Nähe hat, fällt er ins Leere. Er sucht Gemeinschaft in der Kneipe oder wird ein stiller Trinker vor dem Fernseher.
Typ 3 findet man auch eher unter Männern: Das ist ein harmonischer Mensch, der eine langjährige Partnerschaft oder Ehe geführt hat und der die Einsamkeit nicht aushält, wenn die Frau stirbt. Er gibt sich auf.
• Finden Frauen im Alter andere Wege?
Frauen sind initiativer. Sie suchen sich neue Kontakte oder Hobbys, wenn der Ehepartner gestorben ist. Doch auch bei Frauen ist der häufigste Grund, warum sie mit dem Trinken anfangen, die Leere, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Mann dann noch stirbt. Es ist ein Gefühl des Vakuums, und daraus entwickelt sich der Alkoholismus.
• Warum ist Alkohol für viele Senioren eine scheinbare Lösung?
Dafür entscheidet sich ja niemand bewusst. Es geht erst einmal nur um Trost. Alkohol gibt einem am Anfang ein wohliges Gefühl. Es wird nicht der Rausch gesucht, sondern Erleichterung. Alkohol ist eigentlich für und gegen alles gut: Er beruhigt oder putscht auf, stellt zufrieden oder regt an, er nimmt die Hemmungen. Man gewöhnt sich dran, muss immer mehr und öfter trinken, greift zu härteren Sachen und ist ganz schnell in der Sucht. Ich bin selbst Alkoholiker und seit 1. Februar 1980 trocken. Ich weiß, dass man es Alkoholikern nicht übelnehmen kann, wenn sie versprechen, mit Trinken aufzuhören, und es nicht schaffen. Das ist in dieser Krankheit nicht möglich.
• Alkoholismus ist eine Krankheit?
Auf jeden Fall. Am Anfang gerät man durch Leichtsinn hinein, aber wenn Alkohol zu einer Art Medikament wird, das man für seine emotionale und körperliche Balance braucht, dann ist es eine Krankheit. Man kann es mit der Wirkung von Psychopharmaka vergleichen. Bei vielen Älteren kommen auch Probleme hoch, die sie zeit ihres Lebens nicht bearbeitet haben, etwa Erlebnisse im Krieg, auf der Flucht, in einer harten Kindheit oder Jugend. Da beruhigt Alkohol.
• Viele ältere Menschen leben allein. Wird der Alkoholismus dann überhaupt bemerkt?
Da sich viele schämen für ihre Sucht und damit nicht nach außen gehen, wird sie oft erst erkannt, wenn sie einen Unfall haben, die Wohnung so verwahrlost, dass die Nachbarn eingreifen, sie ins Krankenhaus kommen oder ins Seniorenheim ziehen. Das Pflegepersonal ist inzwischen so geschult, dass es die Krankheit meist erkennt. Ich erinnere mich aber auch an eine Frau, die mich bat, zu ihr ins Seniorenheim zu kommen, und mir dann gestand, dass sie trinkt. Sie hat mich verpflichtet, es niemandem zu sagen, weder der Familie noch dem Pflegepersonal. Ich sollte ihr eine Beratungsstelle am anderen Ende der Stadt nennen, damit sie dort nur ja keiner sieht, der sie kennt. Dort war sie dann auch, aber die Geschichte hatte kein Happy End. Nur wer sich outet, kann die Krankheit überwinden.
• Warum ist das so?
Weil man die Bekämpfung der Krankheit in sein Leben integrieren muss. Man macht eine Therapie, geht zur Selbsthilfegruppe und zu anderen Veranstaltungen, hat neue Freunde. So viele Ausreden kann man gar nicht erfinden, um das alles zu verheimlichen. Aber die Scham ist gerade bei Frauen sehr groß, sie möchten die Fassade eines wohlgeordneten Lebens gern aufrechterhalten.
• Wie stehen die Chancen von älteren Menschen, den Alkoholismus zu überwinden?
Es scheint für Alte sogar etwas einfacher, vom Trinken wegzukommen, als für Junge und Menschen mittleren Alters. Denn oft reicht es schon, dass sie sich eine neue Aufgabe suchen. Gerade auf Männer trifft das zu. Ich kannte einen Malermeister, der in seinem Job sehr gut war. Nach der Frühverrentung fing er an zu trinken. Er hat die Flaschen sogar unter dem Gartenweg vergraben, seine Frau hat sie trotzdem gefunden und ihm irgendwann gesagt, dass sie auszieht, wenn er nicht sofort aufhört. Er hat sich entgiften lassen und eine kurze Therapie gemacht. Wirklich gerettet hat ihn aber, dass er gemeinsam mit seiner Selbsthilfegruppe angefangen hat, die Wohnungen bedürftiger Menschen zu renovieren. Das hat ihm sein Selbstwertgefühl zurückgegeben. Er hatte noch zehn gute trockene Jahre, bevor er starb. Sobald jemand eine sinnvolle Aufgabe gefunden hat, ist die Rückfallquote relativ gering. Das unterscheidet Alters-Alkoholiker von anderen.