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Er sagte, was ist – und was sein sollte

„Sagen, was ist.“ Rudolf Augsteins (1923-2002) journalistischer Leitsatz ist unvollständig. Der „Spiegel“ und er zeigen Haltung, sagen auch, was sein sollte: Das 1947 gegründete Nachrichtenmagazin wird zu einer kritischen Instanz im Nachkriegsdeutschland. Vor 100 Jahren, am 5. November 1923, ist der Gründer, Herausgeber und anfängliche Chefredakteur des „Spiegel“ in Hannover zur Welt gekommen.

„Meine Lieben, ich werde die Welt aufhorchen machen und der erste Augstein im Lexikon sein“, das schreibt Augstein 1941 in einem Brief an seine Eltern. Der zum Reichsarbeitsdienst eingezogene Abiturient, als sechstes Kind einer katholischen Fabrikantenfamilie geboren, soll recht behalten. Nach seiner Zeit als Wehrmachtssoldat volontiert er beim „Hannoverschen Anzeiger“, schreibt später für die von der britischen Militärregierung herausgegebene Zeitschrift „Diese Woche“. Er übernimmt die Publikation, macht aus ihr den „Spiegel“ und diesen zum „Sturmgeschütz der Demokratie“, als welches er sein Magazin versteht.

Die vorläufige Lizenz, die er erhält, trägt die Nummer 123. Am 4. Januar 1947 erscheint „Spiegel“-Ausgabe Nummer eins. Augstein ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 23 Jahre alt. Später wird er mit dem Blatt von Hannover nach Hamburg umziehen.

Der Chef weiß sein „Sturmgeschütz“ zu nutzen. Er war, so formulierte es der damalige Bundespräsident Johannes Rau nach Augsteins Tod 2002 in einem Nachruf, „weniger politischer Journalist denn vielmehr schreibender Politiker“. Augstein übt unter anderem massive Kritik an Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU).

Im Oktober 1962 berichtet der „Spiegel“ unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ detailliert über das Nato-Planspiel „Fallex 62“, kritisiert die Bundeswehr und damit Strauß. Die Behörden ermitteln wegen Verdachts auf Landesverrat; Augstein kommt für mehr als drei Monate in Untersuchungshaft. Am Ende der „Spiegel-Affäre“ verliert Strauß sein Amt.

„Sein ‘Spiegel’ sollte Vorbild sein dafür, wie die ‘Wächterrolle der Presse in einem demokratischen Gemeinwesen’ ausgefüllt werden kann, wie er es selbst sagte“, würdigt ihn Hamburgs Mediensenator Carsten Brosda (SPD). „Und wenn er sich dafür verhaften lassen musste.“

Insgesamt 103 Tage sitzt Augstein ein. „Die Marke Spiegel wurde dadurch deutschlandweit bekannt, die Menschen sind auf die Straße gegangen für die Pressefreiheit“, sagt Journalistik-Professor Volker Lilienthal, Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur an der Universität Hamburg, kurz vor dem 100. Geburtstag.

Neben der Politik kritisiert Augstein die Kirche. 1972 erscheint sein Buch „Jesus Menschensohn“. Der katholische Theologe Karl Rahner urteilt: „Es ist ein frontaler und totaler Angriff auf den, den alle christlichen Kirchen als Begründer ihres Glaubens bekennen, auf Jesus Christus.“

Im selben Jahr versucht sich Augstein in der Politik. Im Wahlkreis Paderborn kandidiert er für die FDP und zieht über einen Listenplatz in den Bundestag ein. Bereits nach zwei Monaten verzichtet er auf das Mandat, um wieder mehr Zeit für den „Spiegel“ zu haben.

„Rudolf war vielschichtig, voller Widersprüche“, sagte Augsteins jüngste Schwester Ingeborg Villwock Anfang 2022 in einem „Spiegel“-Gespräch. „Da war die Aggression in seinen Texten. Da war die Lust, hart über andere zu urteilen, Menschen mitunter zu vernichten.“ All das habe jedoch nicht seiner Natur entsprochen. Der Rudolf, den sie vor dem Krieg gekannt habe, sei ein anderer gewesen, ein „Mensch, der kaum auffiel und sich durch nichts hervortat“.

Einen anderen Widerspruch benannte Günter Grass: „Auf der einen Seite war er der absolut Liberale“, schrieb der Schriftsteller in seinem Nachruf auf Augstein, „auf der anderen Seite hatte er, besonders im Alter, ein zunehmend deutschnationales Auftreten“.

Dass ihr Bruder „so ein kompliziertes Wesen“ geworden sei, dürfte zudem daran liegen, „dass er seine Opposition gegen das Elternhaus nie ausgelebt hat“, urteilte Villwock. Er „wollte geliebt werden“, das sei „zeitlebens seine Triebfeder“ gewesen. „Deshalb später die vielen Frauengeschichten, deshalb seine fünf Ehen, er raste von einer Liebschaft zur nächsten.“

Was dauerhaft währt, ist Augsteins Liebe zum „Spiegel“. Seiner klaren Haltung verleiht er darin auch 1989 Ausdruck, als „Spiegel“-Chefredakteur Erich Böhme schreibt, er wolle nicht wiedervereinigt werden. Augstein antwortet in der Folgeausgabe, „anders als er, will ich wiedervereinigt oder neu vereinigt werden, wenn auch nicht um jeden Preis“.

2001 wird ihm für sein publizistisches Lebenswerk der Ludwig-Börne-Preis verliehen. Am 7. November 2002 stirbt Augstein in Hamburg. Als Herausgeber steht er bis heute im „Spiegel“-Impressum.