Die Orgelpfeifen stehen dicht an dicht. Übereinander verschachtelt, nehmen sie die ganze Rückwand der Kasseler Martinskirche ein – stolze 19 Meter. Und doch wirkt dieser Wald aus 5000 Pfeifen nicht massiv oder hermetisch. Ganz im Gegenteil: Das Sonnenlicht, das durch die Fenster in die Kirche fällt, reflektiert das helle, glänzende Metall und bringt die Formen zum Tanzen.
„Nicht nur musikalisch soll das Instrument herausragen, auch die Gestaltung muss zeitgemäß sein“, sagt Kantor Eckhard Manz. Die äußere Gestalt der neuen Orgel von St. Martin in Kassel stammt vom norwegischen Künstler Yngve Holen.
Es ist ein Instrument, das Maßstäbe setzt: Die Orgel wurde speziell für die Erfordernisse Neuer Musik konzipiert, die in Klang, Harmonik und Melodik mit alten Traditionen bricht. Unter anderem hat sie ein Vierteltonklavier. Am Pfingstsonntag wird die Orgel in einem Gottesdienst mit Landesbischof Martin Hein offiziell in Dienst gestellt.
Als Ort, an dem zeitgenössische Musik gepflegt wird, hat die Kasseler Martinskirche schon lange überregionale Bedeutung. Das Festival „Neue Musik in der Kirche“ pflegt seit mehr als 40 Jahren den Austausch zwischen Komponisten, Interpreten und Theologen. Und auch im Gemeindealltag – in Gottesdiensten und Predigtreihen – hat die Neue Musik einen festen Platz. Der Neubau soll nun dieser musikalischen Prägung Rechnung tragen, neuen Klängen Gehör verschaffen und dem Orgelbau frische Impulse geben. Die Planung für das Instrument begann bereits vor zehn Jahren.
„Wir haben mit vielen Komponisten gesprochen“, erzählt Manz. Was die Kreativen von einem Instrument des 21. Jahrhunderts erwarten, ist höchste Klangqualität. Außerdem soll die Tongebung durch den Spieler mehr als bisher beeinflussbar sein.
Der Wunsch, den allzu statischen Orgelton irgendwie zu beleben, besteht seit Langem. 15 Orgelbaufirmen wurden eingeladen, Entwürfe einzureichen. Die Vorarlberger Firma Rieger macht schließlich das Rennen. Sie zählt zu den ältesten und etabliertesten Orgelbauern im deutschen Sprachraum.
„Die Mischung aus Neugier und Professionalität in der technischen Realisierung hat uns überzeugt“, sagt Manz. Doch die Orgel kann auch die traditionelle Literatur aus Barock und Romantik wiedergeben. „Das war wichtig, dass es eben kein Spezialinstrument ausschließlich für die Neue Musik wird“, betont der Kantor.
Die Verbindung von der Taste zur Pfeife ist mechanisch – eine Reminiszenz an die Tradition des Orgelbaus. Verschiedene Schlagzeugregister und eine breite Palette von einzeln wählbaren Obertönen erweitern das Klangspektrum. Zur fest installierten Hauptorgel kommt noch ein fahrbares Modul im Kirchenschiff, das seine Töne direkt neben den Ohren der Hörer produziert.
Um den Ton lebendig und individuell zu gestalten, kann der Winddruck abgesenkt oder erhöht werden. Dies geschieht mittels Gewichten über den ledernen Magazinbälgen, in denen die Luft für den Orgelton vorgehalten wird. Neu ist die Möglichkeit, den Winddruck für jedes der vier Manuale und das Pedal der Orgel unabhängig voneinander zu variieren – so entstehen ganz neue Klangschattierungen.
Die wohl spektakulärste Neuerung der Kasseler Orgel aber sind vier Register (Pfeifenreihen), die nicht in Halb-, sondern in Vierteltönen gestimmt sind. Anspielbar sind sie über eine spezielle Klaviatur, die die Oktave nicht wie üblich in zwölf, sondern in 24 Tonschritte unterteilt. Die Gestalt orientiert sich an einem Vorbild aus dem historischen Cembalobau.
Im Oktober 2016 begann derAufbau des Instruments. Von Ende Januar bis in den Mai lief die Intonation, das klangliche Feintuning. Auch für die Orgelbauer ist dieses Instrument eine besondere Herausforderung. „Der Aufbau ist extrem komplex“, sagt Daniel Orth von der Firma Rieger. Ob die Neuerungen vielleicht einmal auch bei kleineren Instrumenten Einzug halten, lässt sich nicht voraussagen. „Wir betreten hier eine neue Klangwelt“, sagt Orth. „Es wäre schön, wenn sie eine neue Entwicklung anstoßen würde.“
An die feierliche Eröffnung an Pfingsten schließt sich in Kassel ein Festival mit mehr als 150 Veranstaltungen bis 27. August an. Neue, eigens für das Instrument komponierte Werke erklingen in Gottesdiensten und Konzerten, berühmte Virtuosen geben sich ein Stelldichein. Während der zeitgleich laufenden Kunstschau documenta 14 wird das Instrument täglich mehrmals zu hören sein. Bei Führungen kann alles aus der Nähe betrachtet werden. „Ich wünsche mir, dass jeder Gottesdienst- und Konzertbesucher von der Vielfalt dieser Orgel berührt wird“, sagt Kantor Manz.
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Einzigartige Pflanze im Pfeifen-Wald
In Kassel eröffnet eine Orgel speziell für Neue Musik eine neue Klangwelt – ohne die traditionelle zu vernachlässigen

Andreas Fischer