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Eintrag ins “Buch des Lebens”

1.300 Jahre sind keine Zeit, wenigstens nicht am Bodensee auf der Insel Reichenau. Dort wird in diesem Jahr das 1.300-Jahr-Jubiläum der Klosterinsel gefeiert. Findige Menschen auf der Insel wollten das Historische mit der Gegenwart verbinden und stießen dabei auf die alten Verbrüderungsbücher, in die viele Patres und Brüder seit 824 ihre Namen schrieben. Nun, 1.200 Jahre später – also ebenfalls ein Jubiläum – wird ein Buch dieses Typs neu ausgelegt.

Jeder Reichenauer und jede Besucherin, die das Münster in der Mitte der Gemeinde aufsuchen, können sich dort verewigen. Denn damit haben die alten Verbrüderungsbücher zu tun: Die Mönche des Mittelalters, die von Kranksein und Sterben bedroht waren, wollten über ihren Tod hinaus gegenwärtig sein.

Ein Gedanke war dabei vorherrschend: „Wie sieht es aus mit meinem Seelenheil?“ Das war die prägende und quälende Frage, die auch viele Geistliche in den frühen Klöstern umtrieb – vom Abt bis zum Novizen. Die Verbrüderungsbücher brachten Abhilfe: Die eng beieinanderstehenden Namen schufen Gemeinschaft – man fühlte sich mit den frommen Glaubensbrüdern auf einer Buchseite vereint seiner Rettung sicherer.

Zugleich erstellten sie einen Katalog von Pflichten: Beim Ableben eines Mitglieds der Bruderschaft sollten drei Messen gelesen werden, dazu eine Vigil abgehalten und alle 150 Psalmen gebetet werden – das war richtig viel geistliche Arbeit.

„Der Gedanke ist uns heute fremd, dass die Zahl der Messen für das Seelenheil entscheidend sind“, sagt Dieter Geuenich, Professor für mittelalterliche Geschichte, dazu. Er hat als junger Forscher die alten Namenslisten Seite für Seite durchgesehen und die ungeheure Energie entdeckt, die dahintersteckt.

Derart pflichtenreich ist das Verbrüderungsbuch des Jahres 2024 nicht mehr. Nur die schmucke Gestaltung mit den bunten Bögen erinnert noch an das „Liber Vitae“, das „Buch des Lebens“, wie es damals genannt wurde. Der Zuspruch für die Neuauflage ist enorm. Bei der Vorstellung des Buches mit den vielen leeren Seiten drängten sich die Menschen, um sich ebenfalls zu verewigen.

„Die Mönche wollten, dass sie nicht in Vergessenheit geraten“, sagte Geuenich. Dasselbe gelte auch für die heutige Zeit. Einige Besucher vergleichen den schweren Wälzer mit dem modernen Facebook. Auch dort ist der Wunsch spürbar, sich in einer – wenn auch virtuellen – Gemeinschaft zu bewegen.

Dabei hat jeder seine eigenen Gründe, die Buchstaben in das Buch des Lebens zu setzen. „Mir ist das Wir wichtig“, sagt etwa die Reichenauerin Gabriela Steffens, und: „Die Namen stiften dieses Wir, sie sind Gemeinschaft.“

Berthold Winkler war einer der Initiatoren dieses Manuskripts. Als er die Idee erstmals in einer Arbeitsgruppe präsentierte, lautete die erste Antwort: „Das versteht heute niemand mehr.“ Er und seine Mitstreiter blieben dran. Die Feierstunde im Münster scheint ihnen recht zu geben. Andächtig wie sonst nur zum Empfang der Kommunion reihten sich die Teilnehmer ein und setzten ihren Namen auf die leere Seite. Das „Buch des Lebens“ wird während des Jubiläumsjahres 2024 im Münster St. Maria in Reichenau-Mittelzell ausliegen. (0676/27.03.2024)