Günter Boller aus Kassel war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 endete. „Wer das erlebt hat und den Hunger in der Nachkriegszeit, der kann nicht verstehen, wie Menschen heutzutage noch Krieg treiben können wie in der Ukraine und in anderen Ländern der Welt“, sagte der 90-Jährige im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Seiner Erfahrung nach „gibt es kein Halten mehr, wenn die Furie des Kriegs losgelassen ist“.
Seine Erinnerungen hat Boller in einem Buch festgehalten. Es sei wichtig, über das Erlebte zu schreiben, besonders aus Sicht einfacher Leute: „Sie hatten Angst.“ Als Kind sei ihm auch bereits klar gewesen, „dass es gefährlich war, gegen die Nazis zu sein“.
In „Schicksalsjahre der Stadt Kassel: Das Inferno der Zerstörung und der schwierige Wiederaufbau“ beschreibt Boller auch die verheerende Bombennacht vom 22. Oktober 1943 mit rund 10.000 Todesopfern, die er als Achtjähriger mit seiner Familie in einem Kasseler Keller überlebte: „Diese Ereignisse haben sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt.“
Es sei eine sternenklare Nacht gewesen, „als plötzlich der Höllenlärm Hunderter britischer Flugzeuge über Kassel dröhnten, dann fielen die Bomben“. Das fürchterliche Heulen und die Explosionen, bei denen das ganze Haus wackelte, höre er noch heute. Dem Bombenhagel folgte nach seinen Worten ein fürchterlicher Feuersturm: Kassel sei in der Nacht „eine einzige stinkende Rauchwolke“ gewesen. In allen Straßen hätten die Häuser gebrannt, an einigen Stellen der Asphalt.
Im Mietshaus der Bollers war durch Stabbrandbomben nur das Dachgeschoss zerstört worden, während „die Stadt in einer gewaltigen Feuerbrunst unterging“. Der Feuerschein sei durch ein kleines Fenster in den Keller gelangt „und erhellte ihn mit einem gespenstisch flackernden, dunkelroten Licht. Ein Inferno.“
Am nächsten Morgen seien Verwandte aus dem rund 35 Kilometer entfernten Dorf Ostheim im Schwalm-Eder-Kreis mit einem Laster gekommen, um die Familie zu holen, so Boller. „Als wir die Wälder der Söhre hinter uns hatten und durch eine von Herbstsonne durchflutete Landschaft fuhren, begann für mich ein neues Lebenskapitel – ohne das allnächtliche Heulen der Sirenen.“
Das Kriegsende hätten viele herbeigesehnt, begleitet von Ängsten, was kommen würde. Als schließlich die Panzer auch Ostheim erreichten, Soldaten freundlich winkten und Süßigkeiten warfen, sei eine große Last der Ungewissheit von ihnen abgefallen.
Die Nachkriegsjahre seien extrem entbehrungsreich gewesen: „In abgeernteten Feldern suchten wir nach liegen gebliebenen Getreideähren oder Kartoffeln, die Bauern bei der Ernte übersehen hatten.“ Auch der Mangel an Heizmaterial sei mehr und mehr zum Problem geworden.