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Ein zweites Leben – dank Organspende

Am Donnerstag berät der Bundesrat über eine Initiative der Länder zur Organspende – möglicherweise eine entscheidende Veränderung. Für das Ehepaar Leibinger gab es vor 14 Jahren nach einer schweren Diagnose kein Zögern.

Die Diagnose kommt aus heiterem Himmel. Walter Leibinger muss zum routinemäßigen Checkup, er arbeitet bei der Deutschen Flugsicherung, da sind regelmäßige fliegerärztliche Untersuchungen Pflicht. Der Arzt ist entsetzt, als er den Blutdruck misst. 220 zu 140. “Sie müssen sofort ins Krankenhaus”, sagt er.

Dort erhält Leibinger die niederschmetternde Diagnose: akutes Nierenversagen. “In drei Monaten spätestens werden Sie zur Dialyse müssen”, sagt der Arzt. Es sind drei Wochen. Leibinger merkt es an der ständigen Übelkeit und am Mundgeruch.

Sein Leben ist auf den Kopf gestellt. Alle zwei, drei Tage muss er fortan ins Dialysezentrum, am Tag danach fühlt er sich oft schlapp. Ein Tag Erholung, dann geht es wieder zur Dialyse. Er arbeitet weiter, in Teilzeit, doch die Dialyse zehrt an ihm. Auch psychisch. Die Alternative: eine Organspende. “Es war klar, dass dies die Lebensqualität deutlich verbessern würde”, sagt Leibinger.

Doch die Aussichten sind gering. Die Wartezeiten für postmortale Organspenden, also die Spende von Organen Verstorbener, beträgt sieben bis neun Jahre. Rund 8.400 Menschen stehen auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Die allermeisten warten auf eine Niere, viele von ihnen vergebens. Sie sterben, bevor ein geeignetes Organ gefunden wurde.

Walter Leibinger ist gerade 53 Jahre alt geworden, seine Frau Beate ist elf Jahre jünger. Sie haben Pläne, wollen arbeiten, reisen, ihre Töchter heranwachsen sehen. So steht für Beate Leibinger bereits am Tag der Diagnose fest: “Ich spende eine Niere.” Auch die Kinder, damals 15 und 21 Jahre alt, sagen: “Wir wollen dir helfen, Papa.” Eine Nichte, die in Kanada lebt, schreibt: “Du kannst meine Niere haben.”

Walter Leibinger sagt, es habe ihn bewegt zu erfahren, wozu andere Menschen bereit seien. Für ihn sei klar gewesen, das Organ seiner Frau anzunehmen. “Das ist die Person, die mir am nächsten steht.” Es gibt allerdings ein Problem: Ihre Blutgruppen stimmen nicht überein. Bei Organtransplantationen kann das ein Ausschlusskriterium sein.

Das Universitätsklinikum Mannheim ist eines der wenigen Krankenhäuser, das schon früh, seit dem Jahr 2004, Blutgruppen übergreifend Organe transplantiert. Walter und Beate Leibinger, die in Rheinland-Pfalz wohnen, fahren nach Mannheim. Sie haben Glück: Die Uniklinik erklärt sich bereit, eine Transplantation vorzunehmen. Trotz unterschiedlicher Blutgruppen.

Ein Ärztemarathon beginnt. An Lebendorganspenden sind strenge Kriterien geknüpft. Auch wenn der Spender in der Regel keine gesundheitlichen Einbußen davonträgt, stellt die Operation zur Entnahme doch ein gewisses Risiko dar. Außerdem soll sichergestellt sein, dass die Spende aus freien Stücken erfolgt. Dafür muss sich Beate Leibinger den Fragen einer Ethikkommission stellen. Die Ärzte sagen, sie müsse ihre Niere nicht spenden, sie könne noch in der Minute vor der Operation ihr Einverständnis zurückziehen.

Doch Beate Leibinger ist sich sicher: “Er hat es verdient.” Wenn ihr Mann sie morgen verlassen würde, wäre es trotzdem die richtige Entscheidung gewesen. “Mir ist wichtig zu betonen, dass kein Abhängigkeitsverhältnis besteht, damals nicht und heute auch nicht.”

Die Operation ist ein Erfolg. Beate Leibinger hat eine Niere weniger, und Walter Leibinger hat ein neues Leben. Ihre Geschichte erzählen sie gerne und oft. Sie wollen zeigen, was Gutes aus der Organspende erwachsen ist und würden sich wünschen, dass mehr Menschen dazu bereit wären.

Laut Statistik liegt Deutschland bei Organspenden weltweit im hinteren Mittelfeld. Während in Spanien und den USA mehr als 40 postmortale (nach dem Tod) Organspender auf eine Million Einwohner kommen, sind es in Deutschland zehn.

Seit Jahren wird unter anderem auf politischer Ebene darüber diskutiert, ob eine Widerspruchsregelung die bessere Lösung wäre – am Donnerstag berät der Bundesrat über einen entsprechenden Gesetzesantrag. Dann müsste jeder, der seine Organe nicht spenden will, schriftlich widersprechen. Heute hängt es an der Bereitschaft des Einzelnen, einen Organspendeausweis auszufüllen und so einer Organentnahme zuzustimmen. Doch das tun nur wenige.

“Es hapert an der Aufklärung”, sagt Walter Leibinger. Auch in ihrem Bekanntenkreis habe viel Unkenntnis über die Organspende geherrscht. “Wer sich mit dem Thema beschäftigt, muss sich mit dem eigenen Tod beschäftigen, das schieben die meisten Menschen gerne weg.” Leibinger sagt, er habe einen Organspendeausweis, seit er 17 Jahre alt ist. Dass es ihn eines Tages selbst treffen würde, hätte er nie in Erwägung gezogen. “Auch das ist ein Problem, man denkt: ‘Mit mir hat das nichts zu tun”.”

Für Beate Leibinger ist es eine abstrakte Vorstellung, dass ihr Organ im Körper ihres Mannes arbeitet. “Das grenzt an ein Wunder.” Die OP wird auf den 1. Juli terminiert. Sie dauert drei Stunden, drei Stunden für Beate, drei Stunden für Walter. Nach einer Woche kann sie das Krankenhaus verlassen, er nach zwei Wochen.

Um eine Abstoßung des fremden Organs zu vermeiden, müssen Organtransplantierte Medikamente nehmen, sogenannte Immunsuppressiva, die das körpereigene Abwehrsystem bremsen. Das macht Walter Leibinger anfällig für Infektionen mit Viren, Pilzen, Bakterien. “Im Winter werden Sie mich in keinem öffentlichen Verkehrsmittel antreffen”, sagt er. Um sich von Erkältungen zu erholen, braucht er deutlich länger als früher. Jeder Infekt birgt zudem die Gefahr, dass das Spenderorgan angegriffen beziehungsweise abgestoßen wird.

Im Schnitt funktioniert eine gespendete Niere 15 Jahre. Bei Walter Leibinger sind es jetzt 14 Jahre. “Ich habe eine Premiumniere, die hält 30 Jahre”, scherzt er.

Viel hängt von der Lebensweise des Empfängers ab. Leibinger ist inzwischen 67 Jahre alt, er achtet auf seine Ernährung, treibt Sport; alle zwei Monate hat er eine routinemäßige Untersuchung bei seinem Nephrologen. Zwei Mal im Jahr unterzieht er sich zudem in der Mannheimer Uniklinik einer großen Untersuchung.

Nach der Transplantation arbeitet Leibinger noch zwei Jahre Vollzeit bei der Flugsicherung, dann geht er in den Ruhestand. Wenn seine Frau bald aufhört zu arbeiten, werden sie in den Süden ziehen, dort kommt Walter Leibinger ursprünglich her.

“Wir leben nach dem Motto ‘think pink”, denke rosa”, sagt Beate Leibinger. Im Alltag spiele das Thema keine Rolle. “Es wäre psychisch destruktiv, wenn ich mich fortwährend damit auseinandersetzen würde,” sagt Walter Leibinger. Er lebe heute aber intensiver und bewusster – alltägliche Dinge hätten eine weitaus größere Bedeutung. “Ich weiß, dass mir ein zweites Leben geschenkt wurde.” Den 1. Juli feiert die Familie wie einen Geburtstag.