Greifswald. Die Geschichte Pommerns im 20. Jahrhundert – darüber zu schreiben sollte eine einfache Aufgabe sein, 3000 Zeichen waren vorgegeben. So ging ich also ins Pommersche Landesmuseum in Greifswald, wo der dritte Ausstellungsteil der Geschichte Pommerns, vom Ersten Weltkrieg bis zum Beitritt Polens zum Schengener Abkommen, eröffnet wurde.
Ich betrat einen schwarzwandigen Raum: Pommern im Ersten Weltkrieg. Da hat es mich getroffen, denn die Geschichte meiner Familie bestimmte von nun an meine Wahrnehmung.
Große Schlacht
Zeitungsanzeigen sind zu sehen, etwa: „Der Seesieg im Skagerrak“ oder: „Eine große Schlacht in Ostpreußen“, aber auch: „Kaiser entsagt dem Thron“; darunter Briefe und Todesanzeigen. In einem Brief lese ich, dass meine Großmutter 1917 ihren Sohn bei der Marine fragte: „Sind deine Stiefel dicht?“
Danach wird die Geschichte der Fischerteppiche erzählt – einen bekam ich zu meiner Einführung im Greifswalder Dom 1994. Sie sind nicht nur Traditionssache, sondern auch eine Geschichte von Not und Armut der Fischerfamilien.
Erinnerung an Inflation
Zur Zwischenkriegszeit gehört auch der Stettiner Autohersteller Stoewer mit einem Foto von Max Schmeling 1929. Aber diese Zeit bedeutete nicht nur die Goldenen Zwanziger, sondern auch Inflation, Agrar- und Weltwirtschaftskrise.
Und dann steht da ein Volksempfänger mit dem großen Lautsprecher in einer Vitrine. Den kenne ich von einem Foto mit meiner Mutter, genau das gleiche Gerät. Mein Großvater als Pastor der Bekennenden Kirche hat abends „Feindsender“ gehört, worauf die Todesstrafe stand. Aber die Familie hat dichtgehalten!
Ich komme zum Schicksal der Juden in Pommern. 1939 lebten noch etwa 3329 Menschen mit jüdischen Wurzeln in Pommern und 1940 erfolgten die ersten Deportationen. In einem Brief meiner Mutter, die die Novemberpogrome 1938 als junges Mädchen in Offenbach erlebte, las ich, dass sie danach sehr verstört war. Die vielen Kurzbiografien sind bewegend: Große Geschichte wird als persönliche Geschichte erzählt. Diese sind, wie einer der Kuratoren, Gunter Dehnert, sagte, ein tragendes Element der Ausstellung – überzeugend.
Junge Männer mit Stahlhelm
Danach sehe ich eine Soldatenuniform mit Gewehr an der Seite und über einem gedachten Kopf ein Stahlhelm. Solche Fotos kenne ich von meinen Onkeln vor ihrem Tod im Zweiten Weltkrieg – keiner der vier Brüder meiner Mutter überlebte. Junge Männer mit Stahlhelm und siegessicherem Blick – oder war er nur für die Eltern aufgesetzt? Aber auch Fotos ihres Grabes mit Stahlhelm oben auf dem Kreuz sind in unserem Familienalbum.
So berührt die Ausstellung meine Familiengeschichte, denn am Ende werde ich selbst stehen: als Bürger Europas nach dem Schengener Abkommen. Hier wird also meine eigene Vorgeschichte gezeigt.
Nach dem Erschrecken durch die Uniform ging es weiter: Auf fast schwarzem Hintergrund stehen die Alarme und Bombenangriffe auf Stettin: Tag für Tag mit Uhrzeiten und Folgen. Meine 98-jährige Tante erzählte mir, dass bei der Konfirmation ihrer Schwester durch ihren Vater Bombenalarm ausgelöst wurde und alle in den Bunker flohen.
Verbotene Namen
Weiter geht es in die Nachkriegszeit: Pommern mit diesem verbotenen Namen in der DDR und Pommern in der Volksrepublik Polen. Die Mitarbeit polnischer Historiker war übrigens elementar für diese Ausstellung, ebenso die vielen Zeitzeugeninterviews.
Ich empfehle: Betrachten Sie doch vor dem Besuch einmal Ihre eigene Familiengeschichte. Sie wird dann zu Ihrer Ausstellung werden – und ehrlich gesagt: 3000 Zeichen sind zur Beschreibung zu wenig!
Info
Das Museum ist dienstags bis sonntags von 10–18 Uhr geöffnet.