Bereits am Ortseingang ist es gut lesbar: „Zittau: Die Stadt der Fastentücher“. Im historischen Zentrum der sächsischen Stadt weisen überall Tafeln auf die beiden Fastentücher hin. Wichtigstes Exponat ist das Große Zittauer Fastentuch, das drittgrößte Hungertuch weltweit. So verwundert es nicht, dass jedes Jahr rund 40 000 Besucher aus ganz Europa, den USA und Kanada nach Zittau kommen, um die beiden wertvollen Textilien zu bestaunen.
„Das Phänomen der Fastentücher ist schon seit dem frühen Mittelalter bekannt. 40 Tage vor Ostern wurden die Altäre, das Allerheiligste verhangen“, erklärt Ilona Windisch, eine der Fastentuchbetreuerinnen. Das Fasten des Magens sollte mit dem Fasten der Augen einhergehen. Mehr als 200 Jahre lang verhüllte das kostbare, etwa 56 Quadratmeter große Leinentuch von Aschermittwoch bis Ostern mit seinen 90 Bildern – biblische Szenen aus dem Alten und Neuen Testament von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht – den Altarraum der Zittauer Hauptkirche Sankt Johannis.
1472 entstand das „Große Fastentuch“
Ein Franziskanermönch malte das „Große Fastentuch“ von 1472 mit Temperafarben auf Leinen. Finanziert hat es ein reicher Zittauer Gewürzhändler. Den Stadtbrand im 18. Jahrhundert überstand es per Zufall in der Ratsbibliothek. Dann erbat es König Johann von Sachsen und brachte das Tuch ins königliche Palais seiner Residenzstadt Dresden. In den 1930er Jahren kam es zur 1000-Jahr-Feier der Oberlausitz zurück nach Zittau. „Gott sei Dank, sonst wäre es bei der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 wohl verloren gegangen“, betont Wolfgang Mente. Der 74-Jährige erklärt in seiner Freizeit in der Heiligen Kreuzkirche das Bildprogramm des großen Fastentuches.
In den letzten Kriegsjahren wurde es mit anderen wertvollen Gütern der städtischen Museen Zittau auf der Burg- und Klosterruine Oybin versteckt. Dort fanden es aber sowjetische Soldaten, rissen es in vier Teile und nutzten die Seiten als Wandbekleidung für eine provisorisch im Wald errichtete Sauna. „Das war eine Barbarei“, stellt Ilona Windisch fest. Trotz fachgerechter Restaurierung ist der Schaden bis heute sichtbar.
Seit seiner Restaurierung durch eine schweizerische Stiftung wird das „Große Fastentuch“ in der – laut Guinness Buch der Rekorde – „größten Museumsvitrine der Welt“ präsentiert. Sie befindet sich in der heute entweihten Kirche zum Heiligen Kreuz. Mit einer Höhe von 8,20 Metern und einer Breite von 6,80 Metern ist es eine einzigartige Bilderbibel mit Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. „Das Einmalige ist die Beschriftung unseres Tuches in deutscher Sprache – 50 Jahre vor der Reformation“, stellt Mente heraus.
Das etwa 100 Jahre jüngere „Kleine Zittauer Fastentuch“ misst 4,30 mal 3,40 Meter. Mit seiner monumentalen Kreuzigungsszene, umrahmt von mehr als 40 Symbolen der Passion, ist es eine eigene Kostbarkeit. Präsentiert wird es in einem eigens abgedunkelten Raum des ehemaligen Franziskanerklosters, dem heutigen Kulturhistorischen Museum. Weltweit gibt es von diesem Arma-Christi-Typus nur noch sieben Exemplare. „In Deutschland ist es das Einzige seiner Art und wurde von einem unbekannten Maler 1573 geschaffen“, erläutert Windisch.
Zur theologischen Besonderheit gehört, dass es eine evangelische Gemeinde in Auftrag gab – und das in Sachsen, dem Kernland der Reformation, wo Martin Luther die Fastentücher im Jahr 1526 als „päpstliches Gaukelwerk“ verurteilte. Kopien des „Kleinen Fastentuches“ waren schon im deutschen Pilgerzentrum in Rom oder vergangenes Jahr auf dem Katholikentag in Leipzig zu sehen.
In der Passionszeit gibt es spezielle Führungen
Der gebürtige Schlesier Mente betont: „Zur Fastenzeit gibt es spezielle Führungen, die auch gern die evangelische und katholische Gemeinde nutzen.“ Dabei seien die Tücher Museumsstücke und Eigentum der Stadt und spielten im liturgischen Kontext keine Rolle mehr. Dennoch haben Leinen dieser Art offenbar eine eigene Strahlkraft. Die katholische Gemeinde in Zittau besitzt eine Kopie des Grabtuches von Turin, das in die speziellen Führungen und Gespräche einbezogen wird.
Mit einer sogenannten Tücher Tour wird in Zittau die Fastenzeit jedes Jahr eingeleitet. Besonders für Kinder sei die Bilderbibel ein idealer Lernstoff, „zum Beispiel im Rahmen des Religionsunterrichtes, so wie es schon früher war, als Menschen, die noch nicht lesen und schreiben konnten, hier die Bibel erlebten“, erklärt Mente. Aber man könne mit diesen historischen Fastentüchern auch Atheisten erreichen – „das ist für viele Menschen ein besonderes Erlebnis“.