Am Anfang muss erst einmal die Stimme in Form kommen. „Sss-ta, tsch-ta“, schallt es durch den Raum. „Wo-wo-wo“ in drei Tönen aufsteigend, und „Da-da-da“ wieder hinunter. Es ist Abend, der Jugendchor probt im Gemeindehaus. Chorleiterin Sabine Kleinau-Michaelis sorgt dafür, dass die Jugendlichen den Stress des Alltags abschütteln. Im ganzen Saal haben sie sich verteilt. Arme hoch und wieder hinunter, Hände strecken. Und dann ein dreistimmiges „Nooooh.“ Denn Weihnachten steht vor der Tür, und dann sind im Musikdorf Brelingen nördlich von Hannover die Chöre mit ihren Liedern gefragt. „Weihnachten ohne Singen kann ich mir gar nicht mehr vorstellen“, sagt Silja Debuan (18) aus dem Sopran.
Brelingen und die Musik – das ist eine ganz besondere Geschichte. Von den 2.200 Einwohnern des Dorfes macht jeder zehnte Musik, spielt ein Instrument in einem Ensemble oder singt in einem Chor. Das beeindruckte auch den Deutschen Musikrat. An Pfingsten zeichnete er Brelingen als „Landmusikdorf 2024“ aus, als eines von elf Dörfern in Deutschland. Matthias Möhle vom niedersächsischen Musikrat zeigte sich begeistert, als er die Auszeichnung überbrachte: „Brelingen schafft es, einen großen Anteil seiner Bevölkerung zu aktivieren, um musikalische Momente zu schaffen.“
Einer der Motoren dieser Entwicklung sind seit 25 Jahren die Chöre von Sabine Kleinau-Michaelis und ihrer Kollegin Maren Eikemeier in der evangelischen Kirchengemeinde. Nicht nur einen Chor gibt es hier, sondern gleich sechs. Die Jüngsten fangen schon in der „Rasselbande“ an und steigen dann zu den „Spatzen“ auf. Dann übernimmt der Kinderchor, der Mittelchor, der Jugendchor und schließlich der Erwachsenenchor. Rund 170 Menschen bringen die beiden Frauen so zum Singen. Die Abiturientin Silja ist schon lange dabei: „Man kann hier nie zu alt werden für einen Chor und auch nie zu jung dafür sein“, erzählt sie.
In der Probe sind sie mittlerweile bei den Weihnachtsliedern angelangt. „Ding dong bells“, tönt es durch den Saal, der mit einem Adventsstern und einem hölzernen Schwibbogen sowie Tannenzweigen und Papiersternen an den Fenstern geschmückt ist. Die Chorleiterin feilt an den Stimmen. „Super, und jetzt nochmal den Übergang in forte.“ Die drei Jungs unter den 16 Chormitgliedern sollen eine Stelle noch einmal gesondert singen: „Noch deutlicher bitte!“
Doch in Brelingen spielt die Musik nicht nur bei den Chören. Rund 30 Bläser spielen im Posaunenchor, und im Dorf gibt es zudem eine Trommelgruppe, eine Akkordeongruppe und einen Kreis für keltische Musik. Anlaufstelle für viele ist das Kulturzentrum „Brelinger Mitte“, ein umgebautes Restaurant gleich gegenüber der St.-Martini-Kirche. In der kalten Jahreszeit werden hier und in der Kirche hochkarätige Jazz-Konzerte veranstaltet: beim „Winterjazz Brelingen“. Der Bürgermeister der Gemeinde Wedemark, Helge Zychlinski (SPD), ist stolz auf so viel Engagement: „Gerade zur Weihnachtszeit wird spürbar, wie Musik Menschen verbindet und Gemeinschaft schafft.“
Das empfindet auch Mila Markert (14) aus dem Jugendchor so. „Es ist fast schon ein Familiengefühl“, erzählt sie und schwärmt von Chorfreizeiten: „Es schweißt zusammen, wenn man in einem Zimmer schläft und zusammen Abendbrot isst.“ Enna Schwiening (13) freut sich über ihre musikalischen Fortschritte: „Schon krass, wie sich meine Stimme verändert hat.“ Und Frederika Barth (13) sagt über die Menschen in Brelingen: „Du kannst in jedes zweite Haus gehen, klingeln und fragen: Wer macht bei irgendwas mit? Und sie werden ja sagen.“
Schon mehrere junge Familien seien wegen des musikalischen Lebens nach Brelingen gezogen, erzählt Chorleiterin Sabine Kleinau-Michaelis. Ihr Erfolgsgeheimnis mit den Jugendlichen: „Wir nehmen sie und das Singen sehr ernst“, sagt die 65-jährige studierte Musikpädagogin, die nebenamtlich tätig ist. Und ganz wichtig: „Authentisch bleiben, nicht anbiedern, kontinuierlich arbeiten. Einfach da sein und auch ihre Sorgen hören.“ So kann sie die Teenager für vielfältige Projekte begeistern, die von klassischer bis zu populärer Musik reichen: Konzerte, Musiktheater, Auftritte im Gottesdienst oder Flashmobs am nahen Flughafen.
Vor allem an Weihnachten kommt vieles zusammen. „Weihnachten bringt so ein bisschen Magie rein, mit dem vielen Kerzenlicht“, sagt Mila. Und Mitja Bochmann (17) freut sich darauf, vor großem Publikum zu singen: „An Weihnachten ist die Kirche immer voll. Es werden sogar Leute rausgeschickt, weil sie nicht mehr reinpassen.“ Unter großem Hallo stimmen die Jugendlichen am Ende der Probe ein irisches Weihnachtslied an, das sie besonders mögen: „Christmas is coming, the goose is getting fat. Hey, put a penny in the old man’s hat.“ Sie haben es lange geübt, die Stimmen sitzen. Die Chorleiterin schaut zufrieden. Das Fest kann kommen.