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Ein Abbruch “verletzt und macht verletzlich”

Wenn von Abtreibung die Rede ist, geht es meist um Strafrecht, Fristen oder Indikationen. Doch der Abbruch einer Schwangerschaft ist mehr – er ist die Entscheidung für oder gegen ein Leben mit Kind, sei es aus medizinischen oder aus sozialen Gründen. Beides bedeutet einen existenziellen Einschnitt.

106.000 Abtreibungen waren es 2024 bundesweit, meldete im April das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Eine der betroffenen Frauen ist Carolin. Sie erfuhr bei der zweiten Ultraschalluntersuchung in der 20. Schwangerschaftswoche, dass das „Kind etwas zu klein“ sei, der Kopf möglicherweise etwas „zu groß“. Die darauffolgende Pränataldiagnostik ergab zahlreiche Fehl- und Missbildungen durch ein Cris-du-chat-Syndrom. Der Chromosomendefekt hätte eine Vollzeitpflege bedeutet – aus Sicht der Ärzte eine klare medizinische Indikation für einen Abbruch der Schwangerschaft.

„Ich brauchte Zeit für die Entscheidung, bin spazieren gegangen und habe 30 Minuten durchgeweint“, berichtet Carolin in der Selbsthilfegruppe „Sternenkinder Ettlingen“. Im Beisein der Familie und eines Pfarrers wurde Ron, so sollte das Kind heißen, verabschiedet. „Ein Spätabbruch berührt das Umfeld anders als in den ersten zwölf Wochen“, sagt Ursula Kunz vom Diakonischen Werk Karlsruhe. Die erste Beratung nach einer Diagnosestellung sei „reine Krisenintervention“, so die Beraterin der Informations- und Vernetzungsstelle Pränataldiagnostik in Karlsruhe.

Zu dem Schock kommt hinzu: Das Umfeld – Nachbarn, Freunde – reagiert oftmals empathielos. Da helfe es, sich zunächst „Mantras“ oder Redewendungen zu überlegen, die die Kommunikation erleichterten, sagt Kunz. Wichtig sei es, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden. Sie beobachte ein Bedürfnis nach Kontakt mit anderen Betroffenen, um nicht mehr mutterseelenallein zu sein mit dem Bruch in der Biografie. „Es handelt sich generell um ein Tabuthema“, betont die Sozialpädagogin. Zuletzt seien jedoch mehr Angebote auch kreativer Art zur Verarbeitung des Abbruchs entstanden.

Bei einer medizinischen Indikation für einen Abbruch geht es für Eltern und Angehörige darum, den Kinderwunsch loszulassen. Ganz anders bei einer sozialen Indikation. Hier gibt es keinen Kinderwunsch. „Da ist etwas, das nicht zu meinem Leben gehört, etwas, was nicht gewollt ist“, weiß Martin Klumpp. Der frühere Stuttgarter Prälat leitete vier Jahrzehnte lang Gesprächsgruppen zur Trauerbegleitung nach einem Schwangerschaftsabbruch. Entweder passe bei einer sozialen Indikation die Beziehung nicht oder Frauen stünden mangels Verantwortungsbereitschaft des Vaters, der Familie unter Druck, sagt der evangelische Theologe.

So geschehen bei Susanne Schlenker aus Östringen (Kreis Karlsruhe). Es war das Jahr 1980, als die damals 16-Jährige ungewollt schwanger wird. Das Kind lässt sie abtreiben. „Ich hatte keine Wahl, es wäre eine Schande für die Eltern gewesen“, berichtet die heute 61-Jährige. Zuhause wurde nicht über den Eingriff gesprochen, der Freund durfte nichts davon wissen. „Ich fühlte mich allein, verlassen, auf mich selbst gestellt“, erinnert sie sich. Die Angst, von der Schwangerschaft zu sprechen, ließ sie erstarren.

Erst allmählich habe sie gelernt, Gefühle wahrzunehmen und den „Mantel des Schweigens“ zu heben. „Das Wichtigste war die Beziehung zu dem Kind, ich habe ihm einen Platz gegeben“, sagt Schlenker. Die seelische Belastung nach einer Abtreibung werde unterschätzt, ist die Trauer- und Sterbebegleiterin überzeugt.

„Menschen in unserer Gesellschaft sind nicht geübt darin, Gefühle auszudrücken“, betont auch Klumpp. Gefühle wie Scham, Schuld oder Wut veränderten sich jedoch, wenn man sie fühle, weiß der psychologische Familien-, Ehe- und Lebensberater. Nach einem Abbruch sei man „verletzt und verletzlich“. Bei den Gesprächsrunden fühle er sich „in der wahren Kirche“, sagt der Theologe und ergänzt: „Jesus sagte ‚Die mühselig und beladen sind, dürfen zu mir kommen.‘ (Matthäus 11, 28) Er hat nicht gefragt, ob jemand anständig war.“ (0812/09.04.2025)