Der Präsident des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV), David Profit, fordert vor dem Verbandstag in Kassel am Samstag, auch im Sport müsse es endlich eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Missbrauchstätern geben. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt der rheinland-pfälzische Regierungsbeamte und Vorsitzende eines Schwimmbad-Vereins südlich von Mainz, welche Entscheidungen nötig wären, um das Vertrauen in den Schwimmsport nicht dauerhaft zu beschädigen.
epd: Herr Profit, auch der Deutsche Schwimm-Verband sah sich zuletzt mit dem Thema Missbrauch konfrontiert. Inzwischen liegt der Abschlussbericht einer Aufarbeitungskommission vor. Welche Konsequenzen hat das Papier?
Profit: Aus meiner Sicht ist der Bericht für uns im Schwimmsport eine Zäsur, weil jetzt sehr fundiert aufgearbeitet worden ist, was eigentlich passiert war. Für mich sehr erschreckend: Es gab an mehreren Orten sexuelle Übergriffe, nach denen sich davon Betroffene ein Herz fassten und sich mitteilen. Aber ihnen ist nicht geglaubt worden, und es wurde auch nicht weiter ermittelt. Oder es gab Gerüchte zu Übergriffen, und diesen Gerüchten ist nicht nachgegangen worden. Die Opfer leiden Jahrzehnte lang. Ich habe allen geschrieben und auch einen persönlichen Austausch angeboten. Es finden sich im Bericht aber auch Fälle, wo gehandelt wurde.
epd: Die Debatte über Missbrauch im Schwimmsport war durch eine ARD-Dokumentation über den Wasserspringer Jan Hempel ausgelöst worden. Die Aufarbeitungskommission befasste sich mit weiteren fünf „Sachverhaltskomplexen“. Wie kam es dazu?
Profit: Es geht um alle Sachverhalte, die in der ARD-Dokumentation angesprochen wurden. Der Bericht geht aber teilweise über diese hinaus. Die Kommission hatte dazu aufgerufen, dass sich alle, die einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten wollen oder Übergriffe erlitten haben, melden. Das sind wenige Fälle, aber es sind entsetzliche Fälle. Und deren Geschichte ist auch Teil der Geschichte des deutschen Schwimmsports.
epd: War das die Spitze des Eisbergs?
Profit: Es wäre naiv zu sagen, bei mehr als einer halben Million Mitgliedern und einer langen Geschichte des Schwimmsports wäre sonst nichts mehr. In zwei untersuchten Fällen, in denen die betreffenden Personen bereits tot sind, besteht aus meiner Sicht Bedarf an einer umfassenderen historischen Betrachtung vor Ort. Ich gehe davon aus, dass die Gewalt nicht nur auf eine einzelne Person fokussiert war.
epd: Welche konkreten Schritte sollte der DSV auf seinem Verbandstag beschließen?
Profit: Ich halte es für notwendig, dass wir klarstellen, dass Sexualstraftäter vom Wettkampfschwimmsport ausgeschlossen werden, und zwar aus allen Funktionen. Dass verurteilte Sexualstraftäter nicht wieder Trainer werden können, dass die Lizenzen entzogen werden, dass sie auch nicht als Schiedsrichter oder Kampfrichter tätig werden können. Und wir wollen die Präventionsarbeit intensivieren und die bestehenden Regeln, Verfahren und Sanktionen schärfen. Das soll bis Ende 2025 erarbeitet, beraten und beschlossen sein.
epd: Sollte der Ausschluss nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein?
Profit: Es gibt da schon eine sehr differenzierte Diskussion im Sport. Gerade bei erfolgreichen Persönlichkeiten sucht das Umfeld immer wieder nach Möglichkeiten, sie doch weitermachen zu lassen. Da wird dann gesagt, es habe ja einen Täter-Opfer-Ausgleich statt Verurteilung gegeben, oder die Strafe sei verbüßt. Wir hatten bei den Olympischen Spielen in einer anderen Sportart so einen Fall. Mir ist es an der Stelle wichtig, dass wir im Schwimmsport eine sehr klare Kante entwickeln. Ich habe wahrgenommen, wie bestimmte Institutionen Missbrauchsfälle aufgearbeitet haben. Und überall da, wo nicht eine sehr klare Regelung gefunden wurde, ist nachvollziehbarerweise das Vertrauen der Bevölkerung vollkommen erodiert. Das kann auch dem organisierten Sport passieren.
epd: Der Abschlussbericht enthält die Forderung nach einer „gläsernen Schwimmhalle“. Was darf man sich darunter vorstellen?
Profit: Die Kommission hat empfohlen, dass der Schwimmsport stärker teamorientiert arbeitet, dass also nicht Situationen entstehen, bei denen eine Person alleine jahrelang für das gesamte Training eines einzelnen Athleten oder einer Athletin zuständig ist. Ich bin jetzt erst sehr kurz Präsident des DSV. Mein Eindruck ist, dass hier zumindest in den Bundesstützpunkten eine starke Teamarbeit praktiziert wird, die Kommission befasste sich ja teilweise mit Sachverhalten, die sich noch im DDR-Sport oder in den 1990er Jahren in der Bundesrepublik ereigneten. Was jetzt noch folgen muss, etwa ein Leitbild für eine „Hinschaukultur“, muss aus dem Schwimmsport heraus erarbeitet werden.
epd: Warum hat der DSV sich dagegen entschieden, den kompletten Bericht zu veröffentlichen?
Profit: Die Aufarbeitungskommission hat uns mitgeteilt, dass das ein interner Bericht ist, der nur für uns bestimmt ist. Hintergrund sind der Datenschutz und die aktuelle Rechtsprechung zu Aufarbeitungsprozessen. Ich verstehe die Erwartung, dass in so einem Bericht dargelegt wird, wer an etwas persönlich schuld ist. Das beinhaltet er nicht. Der Fokus des Berichts liegt auf der Organisationsentwicklung, also darauf, was strukturell schieflief und was der Verband tun kann, damit sich solche Straftaten im Schwimmsport nicht wiederholen können. Uns war wichtig, dass die Opfer der Straftaten Einsicht in den Bericht nehmen können und die Landesverbände, bei denen Übergriffe passiert sind, ihre Kapitel lesen können, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.
epd: Ein anderes Thema: Schwimmsport ohne Schwimmhallen funktioniert nicht. Und man hat den Eindruck, es der öffentlichen Hand immer schwerer fällt, noch die nötige Infrastruktur vorzuhalten. Wie ernst ist die Lage aus Sicht des DSV?
Profit: Wir sind sehr besorgt, weil wir sehen, dass seit Jahren die Schwimmfähigkeit der Bevölkerung zurückgeht, und zwar in einem erschreckenden Maße. Historisch war es einst ein Riesenfortschritt, dass alle sagten, Fahrradfahren, Schwimmen, Rechnen, Lesen, Schreiben sind die Grundtechniken, die man dem Kind mit auf den Weg gibt. Gerade in den 1970er Jahren sind sehr viele Schwimmhallen und Schwimmbäder gebaut worden, ohne dass später in deren Erhalt investiert wurde. Nach 30 Jahren waren sie dann marode, und die Kommunen hatten kein Geld, sie zu sanieren. Diese Entscheidungen haben jetzt Konsequenzen. Wir erleben teilweise Drittklässler, die anfangen zu schreien, wenn man sie unter die Dusche stellt, weil sie nicht an Wasser über dem Kopf gewöhnt sind. Und wir haben ganze Regionen, in denen Schwimmen in einem Schwimmbad nicht möglich ist. Übrigens wachsen auch Olympiamedaillen nicht am Baum. Es muss Kinder geben, die schwimmen lernen, die Lust am Schwimmen haben, das Schwimmtraining in den Vereinen besuchen und dort als Talente entdeckt werden.
epd: Welche Rolle spielen die Schulen beim Schwimmunterricht?
Profit: Normalerweise geht die Politik davon aus, dass Eltern dafür sorgen, dass ihre Kinder schwimmen lernen, ungefähr im Alter zwischen sechs und sieben. Es gibt verschiedene Gründe, warum das nicht passiert. So lässt sich auch statistisch nachweisen, dass Kinder aus finanzschwachen Haushalten seltener schwimmen lernen. Wir haben aber auch einfach ein Angebotsproblem, weil es zu wenig Schwimmkurse gibt und zu wenig Wasserflächen, auf denen das Schwimmen gelernt werden kann.
epd: Was wäre Ihr Vorschlag?
Profit: Inzwischen gibt es Kommunen, die gegensteuern, zum Beispiel Köln oder Hamburg. Die bieten allen Kindern, die in der dritten Klasse noch nicht schwimmen können, vom Bäderbetrieb organisierten Schwimmunterricht statt Schulsport. Die anderen Kinder der Klasse haben Schwimmtraining. Das ist eine exzellente Idee.
epd: Wer sollte denn grundsätzlich dafür zuständig sein, dass es ausreichend Schwimmbäder gibt?
Profit: Der DSV hat gefordert, dass die Unterhaltung von Schwimmbädern im Rahmen regionaler Bedarfspläne zur Pflichtaufgabe der Kommunen wird. So kann sichergestellt werden, dass bedarfsgerecht Sportstätten oder Schwimmbäder zur Verfügung stehen und dass sich die Länder auch an der Finanzierung beteiligen. Die Rechnungshöfe könnten dann in ihren Prüfberichten nicht mehr schreiben, das, was die Kommunen anbieten, sei ein Luxus. Ich kann mir auch vorstellen, dass es zentrale Wettkampfbäder gibt, die das Land betreibt, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit einer Universität.