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Dokudrama über eine spektakuläre Flucht aus der DDR

Kurz nach dem Bau der Mauer begannen ein paar Westberliner Studenten damit, einen Tunnel gen Osten zu graben: als Fluchtweg für ihre in der DDR eingesperrten Freunde und Familien, aber auch aus Protest und Idealismus.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Nach dem Mauerbau im Sommer 1961 begann eine kleine Gruppe Berliner Studenten mit der Grabung eines Tunnels von West- nach Ost-Berlin, durch den im September 1962 schließlich 29 Menschen aus der DDR fliehen konnten. Als dabei das Geld ausging, holten die Freunde den US-amerikanischen Sender NBC mit an Bord, weshalb das Unterfangen “live” mitgefilmt wurde.

Als der Film am 10. Dezember 1962 von der NBC vor einem Millionenpublikum ausgestrahlt wurde, gingen die dramatischen Bilder um die Welt. Die Grabungen mussten unter hoher Geheimhaltung stattfinden, da ja nicht nur die Fluchtwilligen, sondern auch die Helfer gefährdet waren, sobald sie auf DDR-Gebiet waren.

Dieses Archivmaterial bildet den Grundstock des vielschichtigen Dokumentarfilms von Marcus Vetter, in dem auch Beteiligte von damals zu Wort kommen. 1999 entstand unter dem Titel “Der Tunnel” bereits eine erste Fassung, die Vetter gut zwanzig Jahre später in einem “Remake” ergänzte und erweiterte; dazu wurde das historische Filmmaterial restauriert und die Tunnelflucht in internationale Zusammenhänge einordnet.

Es ist ein veritabler Spionagethriller, der hier erzählt wird, mit sämtlichen Zutaten für einen großen Hollywoodstreifen. Dazu gehören zunächst mal eine hermetisch abgeriegelte Diktatur und ihr heller Gegenpol, die “freie Welt” – also ein klares Böse-Gut-Schema. Außerdem konspirative Treffen, in Zigarettenattrappen versteckte Bankvollmachten, heimlich erstellte Schlüssel-Abdrücke, Kundschafter, Code-Wörter, geheimnisvolle anonyme Anrufer und Connections bis ins US-Außenministerium und zur CIA. Dazu bitter-süße Liebesgeschichten sowie herzzerreißende Familienzusammenführungen – und ein schillerndes Personal, das vom melancholisch-tragischen Helden bis zum draufgängerischen Ex-Sträfling reicht.

Doch “Tunnel der Freiheit” ist keine mit allzu dicken Strichen gezeichnete fiktive Erzählung, sondern ein fesselnder, toller Dokumentarfilm: alles so passiert. Auf deutsch-deutschem Boden, Anfang der 1960er Jahre. Kurz nach dem Bau der Mauer, die die DDR-Bürger von der Flucht in den Westen abhalten sollte. Der mithilfe neuer Technologien aufwendig rekonstruierte und um aktuelle Interviews ergänzte Film von Marcus Vetter wurde bereits 1999 gedreht, aber erst 2021 aus Anlass von 60 Jahren Mauerbau in neuem Glanz ausgestrahlt.

Das Herz der Doku bildet das vom Tunnelbau überlieferte, reichlich vorhandene historische Filmmaterial: Um die unterirdischen Arbeiten zu finanzieren, verkauften die findigen Studenten hinter dem Projekt die Filmrechte an den amerikanischen Fernsehsender NBC. Und so ist man zumindest gefühlt “live” dabei, wenn Luigi Spina und Domenico Sesta, die beiden “Köpfe” hinter dem Projekt, Hasso Herschel, Uli Pfeiffer, Claus Stürmer oder Joachim Rudolph, genannt “der Kleine”, über unendlich strapaziöse Monate hinweg ihre Spitzhacken und Spaten in den teils betonharten Berliner Boden treiben.

Wenige Szenen wurden offensichtlich inszeniert, auch in den historischen Aufnahmen – etwa wenn einer der Protagonisten regelmäßig beim Tagebuch-Schreiben gefilmt wird. Und “fehlendes” Bildmaterial ergänzt Vetter hie und da mit künstlerisch überzeugendem, sehr dezentem Reenactment: “Tunnel der Freiheit” ist ein sogenanntes Dokudrama.

Ausgangspunkt der abenteuerlichen Aktion war das Versprechen der zwei in Westberlin studierenden Italiener Luigi und Domenico gegenüber ihrem im Osten eingesperrten Freund Peter, ihm und seiner Familie bei der Flucht zu helfen. Zu “Gigi” und “Mimo” gesellten sich Hasso, der aus politischen Gründen in der DDR im Gefängnis gesessen hatte, der Republikflüchtling Uli sowie Claus, dessen schwangere Frau mitsamt Kind beim gemeinsamen Fluchtversuch im Osten zurückblieb und dafür zehn Monate ins Zuchthaus musste.

Irgendwann war die Gruppe der an dem Projekt Beteiligten auf 41 Personen angewachsen. Zwar blieb die Aktion bis zu ihrem glücklichen Ende der Stasi verborgen – die erfuhr von dem Tunnel tatsächlich erst, als er elf Tage nach der Flucht von insgesamt 29 Menschen im September 1962 einstürzte. Der Berliner Senat und damit auch die USA als ehemalige Besatzungsmacht bekamen zwar Wind von der Sache, ließen die Tunnelbauer aber gewähren.

“Tunnel der Freiheit” erzählt eine Story, die nicht nur fast unglaublich ist, sondern auch anrührend, aufwühlend, in Sachen diktatorische Skrupellosigkeit erschreckend erhellend und bei all dem wahnsinnig spannend. Das liegt an Marcus Vetter, der – zusammen mit seinem Team – das vielstimmige Material gesammelt und es mit klarem, dramaturgisch versiertem Blick sortiert und montiert hat.

Das liegt auch an den sympathischen, starken, beeindruckenden Charakteren, die man hier kennenlernen darf. Und das liegt, last but not least, an dem unglaublichen Schatz eines visuell breit dokumentierten historischen Coups: ein Trupp Dilettanten, getrieben von Liebe, Rache und Idealismus, der einem grausam-totalitären Staat eine – für diesen äußerst peinliche – Nase dreht. Schöner hätte Hollywood sich das auch nicht ausdenken können.