Artikel teilen:

Die Zeit der Freude

Wochenend und Sonnenschein – und ich mit schlechtem Gewissen daheim? Warum sich der Mensch trotz aller Sorge und Not auch einfach mal freuen darf. Ein Plädoyer

Was für ein Sommer. Seit Wochen strahlt der Himmel in Blau. Garten. Grillen. Große Fahrt in die Ferien – die Sonne weckt die Lebensgeister. Man fühlt sich einfach gut. Freude pur.

Und gleich, irgendwo in einem hinteren Winkel des Hirns, meldet sich das schlechte Gewissen: Darfst du dich denn freuen?
Ja, das ist die Frage. Darf ich mich freuen? Angesichts von Ertrinkenden im Mittelmeer. Von Kriegen, Konflikten und sich vertiefenden Spannungen. Und der Sorge, dass unsere demokratische Nachkriegsgesellschaft auf eine Klippe zusteuert (siehe Seite 5). „Du alberst hier rum, und woanders verhungern Kinder“, überspitzte eine aufgebrachte Freundin mal diesen Vorwurf.

Aber man muss das gar nicht so hoch aufhängen. Das schlechte Gewissen lauert schon in der Nachbarschaft. Als vor einiger Zeit in Süddeutschland ein Amokläufer mit einem Beil auf Bahnreisende losging, sagte ich erschrocken und spontan: „Das ist der Zug, in dem meine Verwandtschaft regelmäßig reist. Gott sei Dank hat es sie nicht getroffen.“ Und der Mensch von nebenan meinte: „Du freust dich, dass es stattdessen andere getroffen hat? Wie selbstsüchtig ist das denn?“
Man kann die Frage nach der Freude auch noch anders drehen: Kann ich mich eigentlich richtig freuen, jetzt, hier, im Moment, wenn ich doch weiß, dass es mir irgendwann auch wieder schlechter gehen wird? Auf Sonne folgt unweigerlich der Regen. Nach jedem Sommer kommt ein trüber November und ein dunkler Winter. Alles nur eine Frage der Zeit.

Gerade auch bei der Gesundheit. Das ist ein Punkt, der bei vielen von uns mit entscheidet, ob wir uns freuen können –  oder weinen und klagen müssen. Jetzt, wo ich in die Jahre komme, fühle ich mich immer mehr wie ein altes Auto: Ständig ist irgendetwas zu reparieren. Kaum ist die eine Sache halbwegs in Ordnung gebracht, geht es schon mit der nächsten Macke in die Werkstatt – sprich: zum Arzt.
Also: Ist „Freude“ nur eine Selbstvertröstung? Eine Eintagsfliege; eine Seifenblase, die schillert und sich für ein paar Augenblicke in die Höhe schwingt und dort mit dem Wind tanzt? Aber zerplatzt, sobald sie auf den Boden zurückkehrt? Und: Darf ich etwas als mein Glück im Alltag, meine Bewahrung in Not, als meine Freude im Leben annehmen – wenn mein Nächster leidet, darbt, stirbt?

Alles hat seine Zeit, sagt die Bibel. Auch Klagen und Tanzen. Weinen und Lachen. Alles hat seine Zeit.
Sicher, manchmal ist einem nicht nach Lachen zumute. Dann ist vielleicht gerade die Zeit zu weinen und zu klagen.
Aber es gibt eben auch die andere Zeit. Die Zeit der Freude. Zum Singen. Zu loben. Zum Danken.

Danke. Für diesen guten Morgen. Danke. Für meine Arbeitsstelle. Danke. Für meine Freunde, meine Ärztin, meinen Kühlschrank. Und für diesen Sommer da draußen. (Auch wenn Landwirte das anders sehen werden.)
Jetzt. Jetzt ist die Zeit der Freude. Genieße sie. Einfach mal so.