Er hatte verschiedene kirchliche und politische Ämter inne. Bekannt wurde Manfred Stolpe im Westen in den 1980er Jahren als Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in der DDR. Wegen seiner vermeintlichen Nähe zum DDR-Regime – er unterhielt während seiner Zeit in der Kirchenleitung regelmäßig Kontakte zur DDR-Staatssicherheit – war er nicht unumstritten. Nach der Wende wurde Stolpe zum ersten Ministerpräsidenten von Brandenburg gewählt. Von 2002 bis 2005 war er Bundesverkehrsminister. Benjamin Lassiwe sprach mit dem Juristen und SPD-Politiker, der am Pfingstmontag seinen 80. Geburtstag feierte, über das Zusammenwachsen zwischen Ost und West, über die aktuelle Rolle der Kirche in den östlichen Bundesländern, über die AfD und darüber, was der christliche Glaube für ihn bedeutet.
• Herr Stolpe, Sie sind 80 Jahre alt geworden. Wie haben Sie auf diesen Tag geblickt?
Das war ein Tag, den ich mit Dankbarkeit erleben konnte. Denn eigentlich sollte ich ja vor acht Jahren schon gestorben sein. Damals hatten meine Ärzte Krebs bei mir festgestellt, und mir nicht mehr viel Zeit zum Leben prognostiziert. Inzwischen aber sind die Behandlungstechniken besser geworden, die Medizin und die Chemotherapie. Und von allem habe ich profitiert. Wenn Sie so wollen, habe ich vor acht Jahren mein zweites Leben angefangen. Heute ist es mir wichtig, dass ich die in Ost- und Westdeutschland zerstreute Familie sammele. Die jungen Leute aus Bayern und Brandenburg sollen ins Gespräch kommen. Deswegen habe ich meinen Geburtstag mit allen zusammen auf der Insel Usedom, in der Nähe der Kleinstadt Stolpe, gefeiert.
• Haben Sie den Eindruck, dass so etwas auch außerhalb Ihrer Familie funktioniert?
Wenn man sich begegnet, wenn man gemeinsame Herausforderungen hat, wie wir sie etwa beim ersten Aufbau in Brandenburg hatten, dann verschwinden Vorurteile. Dann merkt man, wie sich Menschen aus Ost und West gegenseitig ergänzen. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland nicht mehr von Unterschieden zwischen Ost und West die Rede sein, sondern eher von Nord und Süd. Von der Mentalität der Menschen an der Küste und denen in Bayern.
• Nun hat es mit der Wiedervereinigung nicht nur Gewinner gegeben. In allen ostdeutschen Bundesländern gibt es Menschen, die sich aus den gesellschaftlichen Diskursen zurückgezogen haben. Haben wir zu viele Wendeverlierer im Land?
Wir hatten eine ganze Menge davon. Aber ich denke, dass wir das Problem schon frühzeitig kommen gesehen haben. Die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt hat uns immer wieder daran erinnert, dass wir aufpassen müssen, dass Menschen nicht den Anschluss verlieren. Ich bin überzeugt, dass die ganz große Mehrheit der Brandenburger den Übergang in ein neues System geschafft hat.
• Wie erklären Sie sich in dem Zusammenhang den Aufstieg von Protestparteien, wie der AfD?
Das hängt aus meiner Sicht vor allem damit zusammen, dass zu viele Leute in den anderen Parteien oft zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Sie haben zu oft geglaubt, dass die Themen, die sie im Parlament oder in Zeitungen diskutieren, auch Themen sind, die die Menschen auf der Straße interessieren. Man hätte schon wach werden müssen bei der sinkenden Wahlbeteiligung. Die wachsende Zahl der Nichtwähler ist doch ein Beleg dafür, dass Politik ein Problem hat, die Menschen zu erreichen. Man muss sich mehr Mühe geben, mit den Menschen zu reden. Denn sie wollen nicht nur Parolen hören, sondern ernst genommen werden.
• Sie haben zu DDR-Zeiten als Konsistorialpräsident die Kirche gegen den Sozialismus verteidigt. Wie empfinden Sie heute die rot-rote Landesregierung?
Das sind neue Leute. Aber ich habe damals schon gelernt, zu differenzieren. SED-Funktionär war nicht gleich SED-Funktionär. Wir hatten in Potsdam das Glück, dass hier einige vernünftige gesprächsbereite Leute waren. Auch Hans Modrow in Berlin war jemand, mit dem man reden konnte. Cottbus hatte die starke Position, Energiebezirk zu sein. Die Leute dort waren nicht so getrieben von Berlin. Damals kam es darauf an, mit den richtigen Leuten zu reden und auf dieser Klaviatur spielen zu können.
• Waren Sie ein guter Klavierspieler?
Ich war ein guter Klavierspieler, aber ich habe unterschätzt, dass die anderen immer ihre Vermerke schrieben, und alle befördert werden wollten. Je mehr man als Schreiber gut wegkam, desto mehr wuchsen die Chancen auf Beförderung. Es war für mich nach der Wende eine echte Überraschung, dass die Stasi mich deswegen zu einem inoffiziellen Mitarbeiter gemacht hatte.
• Deswegen gab es einen Untersuchungsausschuss im brandenburgischen Landtag. Wenn Sie heute auf diese Zeit zurückblicken – ist man damals aus Ihrer Sicht fair mit Ihnen umgegangen?
Die Bevölkerung ja. Da hatte sich herumgesprochen: Das ist einer, der hat den Menschen in schwerer Zeit geholfen. Das kann ja gar nicht stimmen, was sie ihm andichten.
• Und die politische Klasse?
Differenziert.
• Sie waren zur Wende im Dienst der Kirche. Wundert es Sie, dass die Kirche nach der Wende nicht mehr Menschen hinzugewinnen konnte?
An so etwas habe ich nie geglaubt. Wir haben damals diese marxistischen Ideologen erlebt, die in uns Feinde gesehen haben. Ideologisch: Weil die Religion die Köpfe vernebelt. Und politisch: Weil man uns immer als verlängerten Arm des Westens gesehen hat. Als sich Honecker damals mit der Kirche getroffen hat, wurde den Kirchen zuerkannt, eine Autonomie in den eigenen Räumen zu haben. So entstanden damals die Umweltgruppen. Ich habe damals gesagt: Wir haben jetzt eine politische Diakonie, aber wir können nicht darauf vertrauen, dass sie alle fromm sind. Viele in der Kirche waren damals enttäuscht, dass kein großer Aufbruch kam – ich war das nicht. Ich war allerdings erstaunt darüber, wie schnell die Kirchen für die Medien uninteressant wurden. Als die Wiedervereinigung war, war das vorbei.
• Sie engagieren sich für den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche. Warum?
Es ist ein großes, teures und sicher umstrittenes Projekt, diese Kirche wiederaufzubauen. Ich mache es mit, seit klar ist, dass in Etappen wiederaufgebaut werden soll. Das wird viel Arbeit sein: Friedensarbeit, Versöhnungsarbeit und Erinnerungsarbeit an den Widerstand gegen Hitler. Aber man hat gerade in der Garnisonkirche eine Chance, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen: In keiner anderen Kirchengemeinde sind damals so viele Menschen hingerichtet worden wie hier, wo die Verschwörer des 20. Juli 1944 den Gottesdienst besuchten.
• Am Anfang haben wir über Ihren 80. Geburtstag gesprochen. Lassen Sie mich zum Abschluss wieder eine persönliche Frage stellen: Was bedeutet der Glaube für Manfred Stolpe?