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Die Reichspogromnacht damals und der Judenhass heute

Mit der Reichspogromnacht nahm der größte Völkermord in Europa seinen Anfang. 87 Jahre später fürchten Jüdinnen und Juden erneut im ihr Leben. Wir haben mit einer jungen Jüdin gesprochen.

Ruben Gerczikow, Esther Belgorodski und Landesbischof Ralf Meister diskutieren bei einer Veranstaltung im Hanns-Lilje-Forum über jüdisches Leben in Deutschland
Ruben Gerczikow, Esther Belgorodski und Landesbischof Ralf Meister diskutieren bei einer Veranstaltung im Hanns-Lilje-Forum über jüdisches Leben in DeutschlandJens Schulze

Esther Belgorodski erkennt ihr Heimatland nicht mehr wieder. „Warum unternehmen die Menschen nichts, wenn sie auf Demonstrationen Sprüche wie ‚Tod den Juden‘ hören“, fragt sich die 24-jährige Jüdin, die in Hannover groß geworden ist. „Wo sind die Massen? Sie müssten sich doch einmischen und zeigen, dass sie gegen Antisemitismus sind.“ Als Demokrat dürfe man nicht einfach vorbeigehen, empört sich Belgorodski, die Politik studiert und sich in der Bildungsarbeit engagiert. Früher habe sie zurückgebrüllt, doch mittlerweile spüre sie, wie sie der Mut verlasse. Der Rückhalt in der Gesellschaft sei gesunken.

Das Leben jüdischer Menschen in Deutschland hat sich seit dem Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023 dramatisch zugespitzt. „Niemand kann mir meine Sicherheit garantieren“, fasst Esther Belgorodski ihre Gefühlslage zusammen. So sei sie im Januar auf einem Podium attackiert worden. Und es könne sie jederzeit wieder treffen, fürchtet Belgorodski. Denn sie trage einen Davidsstern und gebe sich damit offen als Jüdin zu erkennen. Schließlich sei sie es gewohnt, ein freies Leben zu führen. „Mein Großvater warnt mich immer wieder. Aber ich will mich nicht verstecken und mich mit der neuen Realität abfinden.“

Esther Belgorodski will trotz Antisemitismus bleiben: “Deutschland ist mein Zuhause”

Am 9. November jährt sich das Gedenken der Reichspogromnacht von 1938, mit der der größte Völkermord in Europa seinen Anfang nahm. Mit Sorge erfüllt viele Menschen, dass Judenhass und Antisemitismus auch in der Gegenwart kein Tabu mehr sind. „Antisemitismus war nie weg. Aber inzwischen wird er als normal hingenommen“, sagt Ruben Gerczikow, der als freier Publizist arbeitet und antisemitische Strukturen im öffentlichen und digitalen Raum untersucht. „Es hat kaum noch Nachrichtenwert, wenn auf Demos antisemitische Parolen gerufen werden.“ Antisemitismus werde als politisches Werkzeug missbraucht, und antisemitische Verschwörungserzählungen seien Teil des AfD-Programms, so der 27-Jährige weiter.

Gerczikow hat wenig Zuversicht, dieser Entwicklung durch Bildungs- und Aufklärungsarbeit beizukommen. „Es gab immer Antisemiten in der Bevölkerung.“ Doch bei jungen Menschen, die noch kein festes Weltbild haben, lohne es sich, die Anstrengungen zu verstärken. Angesichts des Novembergedenkens hoffe er, dass sich die Gesellschaft auf ihre liberalen Werte besinnt.

Mit der Frage, welche Perspektiven sie in Deutschland hat, will sich Esther Belgorodski nur ungern auseinandersetzen. „Ich weiß nicht, was ich unternehme, wenn ich meinen Alltag nicht mehr leben kann.“ Das Land zu verlassen, schließe sie jedoch aus. „Das ist ein schrecklicher Gedanke. Deutschland ist mein Zuhause.“