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Die NS-Zeit und KI bestimmen den Grimme-Online-Award 2024

In Marl wurde allen Unkenrufen zum Trotz der Grimme-Online-Award 2024 verliehen. Im Fokus standen die zukunftsgewandt Aufarbeitung der NS-Verbrechen und Künstliche Intelligenz.

Die Stimmung im großen Saal des Grimme-Instituts war prächtig. Denn dass hier am Mittwochabend überhaupt der Grimme-Online-Award (GOA) 2024 verliehen werden konnte, war schon Grund zum Feiern. Wegen der finanziellen Schwierigkeiten des Grimme-Instituts hatten Grimme-Aufsichtsrat und -Gesellschafter zunächst beschlossen, in diesem Jahr den GOA GOA sein zu lassen. Doch unter dem seit Mai amtierenden Interims-Geschäftsführer Peter Wenzel gehen die Uhren in Marl wieder anders. Zusammen mit dem Team, dass auch für den Fernsehpreis bei Grimme zuständig ist, wurde der GOA in Rekordzeit doch noch möglich gemacht.

Dass die Verleihung erstmals in Marl stattfand, war dabei so sehr Notwendigkeit wie klare Botschaft. In den letzten Jahren hatte man in Köln etwas nobler gefeiert, jetzt war Bodenständigkeit angesagt. Doch für Wenzel kommt der Preis, der seit dem Jahr 2000 die nicht immer leichte Transformation publizistischer Angebote in die digitale Welt begleitet, damit gewissermaßen auch nach Hause: “Wenn irgendjemand Ahnung hat von Transformation, dann ist es das Ruhrgebiet”, sagte Wenzel mit Blick auf den Strukturwandel von Kohle und Stahl.

“Es ist genau das richtige Signal zur richtigen Zeit, dass trotz aller Widrigkeiten der Grimme-Online-Award jetzt stattfindet”, dankte denn auch NRW-Medienminister Nathanael Liminski (CDU). Seine Landesregierung stemmt den Löwenanteil der Grimme-Finanzierung und hat jetzt für den GOA noch einmal in die auch in Düsseldorf nicht übervollen Taschen gegriffen. Erstmals hatte sich auch der Landkreis Recklinghausen, zu dem Marl gehört, beim GOA engagiert.

Im Saal war der “Retter des GOA” (Wenzel über Liminski ) aber nicht nur zum Grüßen gekommen, sondern übergab auch den in diesem Jahr erstmals verliehenen Sonderpreis “Künstliche Intelligenz”. Er ging an den Podcast “In 5 Tagen Mord – Die Krimi-Challenge mit KI” des Bayerischen Rundfunks, in der zwei Journalisten plötzlich vor der Aufgabe stehen, in fünf Tagen ein Krimi-Hörspiel aus dem Boden zu stampfen. “KI hat dazu geführt, dass wir alle noch ein bisschen unsicherer geworden sind”, so Liminski – spätestens “der Papst in der Bomberjacke” habe das wohl allen klar gemacht. “Aber KI ist auch ein effektives Instrument, so etwas aufzudecken.” Der katholische CDU-Mann, der auch Chef der Staatskanzlei NRW ist und als einer der größten Strippenzieher der deutschen Medienpolitik gilt, plädierte für ein entspanntes Verhältnis zur KI. “Sie ist wie alles ein Instrument, und was wir daraus machen, liegt an uns”, so Liminski.

Der Schwerpunkt der ausgezeichneten Online-Angebote lag – KI hin oder her – 2024 aber klar im historischen Bereich und hier besonders in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Dies passt in den Worten der Jury in eine Zeit, “in der Gesellschaft und Öffentlichkeit zunehmend von Populismus und menschenfeindlichen Tendenzen geprägt werden”.

Ausgezeichnet wurde zum Beispiel das Verbundprojekt “#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen” unter Beteiligung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft – ein Bildatlas, der historische Fotografien der Deportationen von Jüdinnen und Juden, Sintizze und Romnja sowie kranker und behinderter Menschen aus dem Deutschen Reich von 1938 bis 1945 sammelt. Außerdem in der Kategorie “Wissen und Bildung” prämiert wurde der TikTok-Kanal “keine.erinnerungskultur” von Susanne Siegert: Sie schaffe es als “Einzelkämpferin”, einen “sehr gegenwartsbezogenen Zugang zu den Verbrechen der Nationalsozialisten” herzustellen, lobte die Jury.

Mit dem ungewöhnlichen Titel des Kanals will Siegert ein Bewusstsein dafür schaffen, wie es mit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weitergeht, wenn es keine direkten Zeitzeugen mehr gibt und traditionelle Formen der Erinnerung manchmal nicht nur für jungen Menschen aus der Zeit gefallen wirken. Sie bevorzuge hier den Ausdruck “Gedenkarbeit”, sagte Siegert in ihrer Dankesrede in Marl.

Einen Preis in der Kategorie “Kultur und Unterhaltung” erhielten für die Online-Aufarbeitung des Satire-Magazins “Het Onderwater-Cabaret” über den Einblick in die Gedankenwelt und den in der NS-Zeit in den Niederlanden untergetaucht Autor Curt Bloch. Ein weiterer Preis in dieser Kategorie ging an die “Library of Lost Books” über die Bibliothek der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und ihre geraubten Bücher. “Was zunächst tragisch wirkt, bekommt hier positive Assoziationen”, meinte die Chefin der Hörfunkwelle WDR1live, Schiwa Schlei, ihrer Laudatio: “Das wird lebendig, sehr stark und ist echtes Empowerment.”

Aber natürlich gab es auch Preise für das direkte Hier und Jetzt und seine Herausforderungen. In der Kategorie “Information” wurde die Recherche “Tod aus Europa – Europäische Waffen, amerikanische Opfer” des “Tagesspiegel” in Zusammenarbeit mit dem ZDF-“Magazin Royale” ausgezeichnet. Sie rekonstruiert die Wege von Waffen, die Massentötungen in den USA benutzt worden, zurück zu deren Herstellern. Und die sitzen gerne mal in schmucken kleinen Orten in Deutschland und Österreich.

Gleich zweimal konnte die Plattform netzpolitik.org abräumen. In der Kategorie Information wurde sie für die Podcastreihe “Systemeinstellungen” ausgezeichnet, die die Geschichten von Menschen erzählt, “die plötzlich ins Visier des Staates geraten”. Dazu gehört beispielsweise eine Pfarrerin, die sich für Geflüchtete einsetzt und plötzlich Besuch von der Polizei bekommt. Eine junge Klimaaktivistin, deren Kinderzimmer durchsucht und deren Handy beschlagnahmt wird. Oder der Soziologe Andrej Holm, der ohne dass er etwas Böses getan hatte, eines Tages verhaftet wird – wegen eines fehlgeleiteten “Terrorverdachts”.

Dazu kommt ein Spezial-Preis für netzpolitik.org zusammen mit dem Bayerischen Rundfunk für die “Databroker Files” über unkontrollierten Datenhandel im Netz. Die von einem zwielichtigen Datenhändler als Werbematerial dem BR kostenlos zur Verfügung gestellten Handydaten führten pikanterweise unter anderem auch zum Verfassungsschutz und zum Bundesnachrichtendienst.

Und dann war da noch der Instagram-Kanal “Robinga Schnögelrögel”. Hier klärt der Hobbygärtner und “Plantfluencer” Robin König derart kenntnisreich und amüsant über Artenvielfalt und Biodiversität auf, dass es der Jury ebenfalls einen Preis wert war.

Die aktuelle Politik fehlte beim GOA natürlich auch nicht, wofür vor allem Schauspieler Armin Rohde sorgte. Dass die Demokratie unter Druck steht, hatte Grimme-Interimschef Peter Wenzel schon ganz am Anfang klar gemacht: “Und das Netz hat die Möglichkeit, Demokratie zu gefährden, aber auch zu schützen”, so Wenzel.

Und Rohde, der als Preispate den GOA an “Tod aus Europa” verlieh, verband das mit einem eindeutigen Appell, der AfD nicht auf den Leim zu gehen. “Es wächst eine Generation heran, der systematisch abgewöhnt wird, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden”, so Rohde. Die AfD habe “außer ihrem Narrativ nichts anzubieten, das ist pure Fiktion”, rief Rohde unter dem Applaus des Publikums.