Ob Sprache und Schrift, Politik und Philosophie, Kunst und Kultur oder Gesetzgebung oder Geldwesen: Wichtige Dinge, die die Gesellschaft und das Zusammenleben in der westlichen Welt bis heute prägen, haben ihre Wurzeln in der klassischen Antike. Wie und wo dieses einzigartige Wissen über Jahrtausende übermittelt und bewahrt wurde, macht ab Samstag eine Ausstellung im Diözesanmuseum Paderborn deutlich. Unter dem Titel „Corvey und das Erbe der Antike: Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“ können Besucherinnen und Besucher auf eine Spurensuche gehen.
Mit mehr als 120 Exponaten, darunter Goldschmiedearbeiten, seltene Handschriften, monumentale Inschriften, Fragmente von Wandmalereien und Elfenbeinschnitzereien, von Leihgebern aus Helsinki über Rom bis in die USA führt die Sonderausstellung durch das 8. bis 12. Jahrhundert. Sie beleuchtet damit eine Blütezeit, als mittelalterliche Kirchen, Klöster und Königspfalzen im Auftrag der Herrschenden Wissen und Innovationen sammelten, Texte abschrieben, auch überarbeiteten und weiterverbreiteten.
Im Mittelpunkt der Schau steht die einstige Benediktinerabtei Corvey im westfälischen Höxter, die als bedeutende Klostergründung des Mittelalters gilt. Ludwig der Fromme ließ sie auf Anregung seines Vaters, Karls des Großen, um 822 erbauen. 1265 wurden Stadt und Kloster zerstört, nur das zwischen 873 und 885 gebaute Westwerk überstand die Wirren der Zeit und ist seit 2014 Welterbestätte.
Das „Empfangskomitee“ im Diözesanmuseum bilden zwei imposante und martialisch anmutenden Tierskulpturen – eine fauchende Bärin und ein heulender Molosserhund. Die eine stammt aus dem Aachener Domkapitel, der andere aus den Vatikanischen Museen in Rom. Beide Figuren stehen symbolhaft für die römische Kaiserzeit und ebenfalls für das Mittelalter, als in den Werkstätten und Bauhütten außergewöhnliche Werke der Architektur, der Kunst und der Goldschmiedearbeiten in antiker Tradition entstanden.
Der Weg durch die 1.000 Quadratmeter große Ausstellungsfläche führt thematisch immer wieder nach Corvey, dessen Bibliothek und Schreibstube im Frühmittelalter weltberühmt waren. Das ehemalige Reichskloster am Weserborgen bei Höxter sei nicht nur ein ungeheurer Wissensspeicher zur Antike gewesen, sondern auch eine wichtige „Relaisstation“ für deren Verbreitung, sagt Museumsleiter Holger Kempkes, der mit seinem Team die Ausstellung drei Jahre lang vorbereitet hat.
In der Paderborner Schau wird deutlich, dass sich die zwischen von 751 bis 919 nach Christus herrschenden Karolinger als Erben Roms betrachteten, indem sie deren antike Ideen, Techniken sowie wissenschaftliche Methoden aneigneten und diese zu einer eigenen, lebendigen Kultur umwandelten. „Diese karolingische Renaissance war eine entscheidende Epoche für die Grundlagen unserer Zivilisation“, betont Kempkes.
Die Schau setzt Corvey ein Denkmal, lebt aber vor allem von der Vielzahl der seltenen historischen Exponate und der außergewöhnlichen Schatzkunst aus aller Welt. Zurückgekehrt in die „ostwestfälische Heimat“ sind etwa die Annalen des Tacitus aus Florenz, einst aus der berühmten Bibliothek Corvey im Auftrag der Medici entwendet. Aus der Stiftsbibliothek St. Gallen kommen Fragmente eines Werkes des römischen Dichters Vergil, und das Prager Domkapitel stellt ein farbenprächtiges Evangeliar des späten 9. Jahrhunderts zu Verfügung.
Als bedeutendstes Werk mittelalterlicher Goldschmiedekunst sticht die „Burse von Enger“ heraus. Das goldene Reliquiar stammt aus dem 8. Jahrhundert und soll ein Taufgeschenk von Karls des Großen an Sachsenherzog Widukind gewesen sein. Kunstvoll in antiker Tradition in einer stadtrömischen Werkstatt hergestellt sind die Fragmente des Marmor-Sarkophags von Ludwig des Frommen – ein Teil wurde zerstört und nach der Französischen Revolution als Kanalplatten benutzt.
Auch die griechische Mythologie ist Thema der Ausstellung. So steuert der US-amerikanische Kalligraph und Künstler Brody Neuenschwander eine Raumintervention zu der Abenteuerreise des Odysseus bei. Er bezieht sich damit auf antike Wandmalereien um Skylla und Odysseus im Johannischor im Westwerk Corveys, die Wissenschaftlern immer noch Rätsel aufgeben.