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Die Macht der Wut

Immer mehr Menschen sehen sich im politischen System nicht mehr angemessen vertreten. Sie wenden sich zweifelhaften Alternativen zu. Warum? Weil akzeptable Alternativen fehlen

Bestürzung und bange Sorge – das mag so manchen Christenmenschen fast zwangsläufig überfallen, wenn er sieht, wie sich derzeit große Teile der Gesellschaft in ihren politischen Ansichten verrennen. Dabei geht es nicht nur um die Inhalte, denen die Menschen jetzt wieder zulaufen. Sondern auch um die Heftigkeit, mit denen man Gegeneinwände in den Wind schlägt. Und um die Kurzsichtigkeit, mit der so mancher die möglichen und wahrscheinlichen Folgen schlicht ausblendet.
Und das gilt im Moment offenbar in der gesamten westlichen Welt.
In den USA sind es die Anhängerinnen und Anhänger eines Donald Trump, die einen fassungslos mit dem Kopf schütteln lassen. Nicht, dass man automatisch seine Gegenkandidatin im Wahlkampf, Hillary Clinton, für eine gute US-Präsidentin halten müsste. Das kann man meinen oder auch nicht.
Entscheidend ist, dass jemand wie Donald Trump überhaupt nicht und unter gar keinen Umständen allein schon in die Auswahl für das Amt des „mächtigsten Menschen auf Erden“ gelangen dürfte. Einem Choleriker und Egomanen die Welt anvertrauen – warum wollen das trotzdem so viele?
Auch Europa hat seine neuen Rattenfänger. Und da reden wir gar nicht mehr allein von schon länger Verdächtigen wie Viktor Orbán in Ungarn und Co. Längst sind auch in bislang stabilen Demokratien wie Italien, Frankreich und England die „Rechtspopulisten“ auf dem Vormarsch. Jene, die an niedere Instinkte im Menschen anknüpfen – und sie erneut auf einen Weg leiten, der die Welt hässlicher und ärmer machen und am Ende fast zwangsläufig ein weiteres Mal in Leid und Zerstörung enden wird.
Und in Deutschland? Da schauen wir fassungslos, wie Gruppen à la AfD und Pegida Zulauf erhalten.
Die Menschen, die sich ihnen zuschlagen, verändern sich. Ihr Ton wird Hass. Ihre Perspektive endet am eigenen Stadtrand. Sie denken Dinge nicht zu Ende. Die Werte, die die Marschierer angeblich „verteidigen“ wollen, treten sie in Wirklichkeit mit Füßen.
Freiheit, Sicherheit, demokratisches Aushandeln von Regeln. Barmherzige Zuwendung dem Schwachen. Füreinander einstehen. Solidarität. Alles steht auf dem Spiel. Sie gefährden genau das, wofür sie meinen, auf die Straße zu gehen: die Werte des „christlichen Abendlandes“.
Diese Menschen gleichen einem Wütenden, den das Empfinden von Ohnmacht und Hilflosigkeit zur Raserei treibt. Sie sehen keinen anderen Ausweg mehr, ihre aufgestaute Enttäuschung zu entladen, als draufzudreschen. Auch wenn dabei die Wohnungseinrichtung zerdeppert wird oder gleich das ganze Haus einstürzt.
Sie sehen keine Alternative mehr. Und wenden sich deshalb den neuen „Alternativen“ zu. Seit Jahren liegt die politische Streitkultur lahm. In Deutschland haben sich Konservative und Linke/Liberale de facto immer weiter angenähert. Gewerkschaften? Arbeitgeber? Kirchen?

 

Gewerkschaften? Arbeitgeber? Kirchen? In den großen Dingen ist das alles irgendwie ein verständnisvolles Miteinander. Die Leitmedien – führende Tageszeitungen, Magazine, Nachrichtensender – haben sich ebenfalls auf eine weitgehend gemeinsame Basis eingependelt. Das gibt Stabilität. Das hilft beim vernünftigen Regieren.

Stabile Lage. Da ist nichts zu machen

Aber wer sich in dieser politischen Großwetterlage eben nicht wiederfindet, wer etwa als angestammter „Sozi“ die SPD gewählt hatte und damit plötzlich als Garant der Großen Koalition aufgewacht ist, wer als traditionell Konservativer sich in Merkels CDU nicht mehr zu Hause fühlt – der mag Ohnmacht in sich aufsteigen fühlen.
Das heißt nicht, dass eine Große Koalition verwerflich wäre. Das heißt nicht, dass das Regieren in der politischen Großwetterlage der vergangenen Jahre falsch gewesen wäre. Das heißt nicht, dass es eine gelenkte oder kontrollierte Medienlandschaft gäbe.Es heißt allerdings schon, dass zig Zehntausende offenbar den Eindruck bekommen haben, mit ihren abweichenden Meinungen nicht mehr vorzukommen. Multikulti. Nationale Identität. Globalisierung. Wertediskussion. Lebensarbeitszeit. Hartz IV. Höhe der Renten. Nüchtern betrachtet, mag es zu all diesen Dingen richtige und falsche Haltungen geben. Aber auch die falsche Haltung sollte in einem Gemeinwesen eine Existenzberechtigung besitzen – zumal dann, wenn dieses Gemeinwesen als Demokratie allen seinen Mitgliedern am Wahltag umfassende Macht zubilligt.

Weghören, meiden: Das ist der falsche Weg

An dieser Stelle mag ein Schlüssel zum Verständnis des neuen Wutbürgertums liegen. Ein Steinchen im Mosaik vielleicht nur. Aber doch bedenkenswert.
Was wäre dann zu tun?
Wenn viele und immer mehr Menschen den Eindruck haben, dass man ihnen nicht mehr zuhört – gerade auch in ihren abweichenden, vielleicht sogar abstrusen Haltungen –, dann wäre eines völlig verkehrt: ihnen auszuweichen. Weghören, das Gespräch als vermeintlich vergebliche Liebesmühe ablehnen, sie lächerlich machen oder auch nur zurückbrüllen: Genau das wäre dann der falsche Weg. Weil es die Menschen in ihrem Empfinden nur noch stärken würde, kein Gehör zu finden. Keine gute Alternative zu finden. Fatalen „Alternativen“ folgen zu müssen.
Das hier ist kein Lösungsvorschlag. Eher der Versuch einer Richtungsangabe, eines Aufrufs zum Weiterdenken:
 Der „harte Kern“, die Macher der Hass- und Hetzbewegung, sind vermutlich für jede sachliche Auseinandersetzung verloren. Da bleibt wohl nur noch: klare Kante zeigen.
 Die vielen, die jetzt aber zuströmen oder kurz davor sind: Da lohnt es zuzuhören. Auch wenn es schwerfallen mag. Das ist ähnlich wie in der Seelsorge: Diese Menschen wollen mit ihren Sorgen, Ängsten, auch eingebildeten, gehört und gesehen werden. Den anderen ernst nehmen – und das nicht den falschen Alternativen überlassen.

Und nicht zuletzt: die eigene Position bekennen. Nicht wütend. Nicht hasserfüllt. Aber klar und selbstverständlich. Und damit auch die vielen anderen stützen, die für ein gutes Zusammenleben aller eintreten.
Der Wut den Wind aus den Segeln nehmen: Das könnte vielleicht ein Beitrag zu einem verheißungsvollen Miteinander sein.