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Die gottfarbene Seele

Im Seelengrund ist jeder Mensch selbst göttlich, postulierte der Dominikaner Meister Eckhart – für Glaubenssätze dieser Art musste sich der „Erfinder der Gelassenheit“ am päpstlichen Hof wegen Häresie verantworten

Meister Eckhart ist der „tiefgründigste Philosoph des Christentums“ (Kurt Flasch) und zugleich Lehrer einer nondualen christlichen Mystik. Ein akademischer „Lesemeister“, der auch ein profunder spiritueller Berater und „Laebemeister“ war. Sein Werk umfasst Traktate und Bibelkommentare, aber auch volksnahe deutsche Predigten und seelsorgerliche Texte zur praktischen Lebensführung. Eckhart beschäftigt heute Germanisten, Theologen, Neurologen, Psychologen und Philosophen in aller Welt. Heute, wo das Christentum in Europa um seine Zukunft ringt, ist Meister Eckhart wichtiger denn je. Er bietet eine aufgeklärte, mystisch geschulte und selbstlos-gelassene Christusnachfolge, die aus dem „Grund“ wirkt.

Christusnachfolge aus dem „Grund“

Der Philosoph Hans Blumenberg nannte Eckharts Rede vom Grund eine Meistermetapher von unerhörter Sprengkraft. Eckhart lotet mit ihr die Bewusstseinsebenen aus, die unser Geist im Nachdenken über sich selbst und noch tiefer im kontemplativen Gebet erfährt. Bei Eckhart ist Mystik Bewusstseinsforschung. Wir haben ein Bewusstsein, das sich beobachten und dabei über sich nachdenken kann.
Das Ich trennt ständig zwischen sich als Subjekt und allen anderen als Objekten. So „entfaltet“ sich das Bewusstsein und erfasst laut Eckhart durch Differenzierung die „Vielfalt“ der Welt. Um aber die ursprüngliche „Einfalt“ aller Dinge im „Grund“ und das Einssein mit Gott zu erfahren, muss man die Ich-Schranke „durchbrechen“. In der Versenkung kann man sich schrittweise von der Bindung an das äußere Ich und seine „Eigenschaften“ lösen. Für diese Bewusstseinstransformation prägt und variiert Eckhart den Begriff „Bildung“. Sie ist „Gottessache“ und führt als Nachahmung Christi hinein in den Grund. Er liegt mitten im Bewusstsein verborgen.

„Vielfalt“ der Welt gegen „Einfalt“ der Seele

Es beginnt beim Wachbewusstsein des „äußeren Menschen“ und allem, was man sinnlich erfassen und als Realität in sich „einbilden“ kann. Diese äußeren Bilder sind für Eckhart „eine Lockung zu Gott“. Allerdings stellen Menschen sich Gott gern als Wunscherfüller vor. „Sie wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben wegen Milch, Käse und des eigenen Nutzens. So halten es alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willens lieben.“ Das unbewusste Ich verwechselt Gott, den absoluten Grund allen Seins, mit einem Lieferanten. Das sei, so Eckhart, eine „Eselei“.
Als Nächstes kann das Bewusstsein alles erforschen, was sich im „inwendigen Menschen“ an Gedanken, Gefühlen, Wünschen, Vorstellungen über sich selbst, Gott und die Welt „ausgebildet“ hat. Viele christliche Mystiker haben diese subtile seelische „Wirklichkeit“ erforscht und in ekstatischer Hingabe Gottes Liebe erfahren.
Bei Eckhart fehlen solche Berichte über emotionale mystische Erlebnisse. Er strebt hinter die Gefühle, Gedanken, Glaubenskonzepte und kulturellen Gottesbilder. Dazu soll man das „Gebet ohne Eigenschaften“ üben, frei von allem Persönlichen, als schweigendes Verweilen in der Gegenwart Gottes: „Denn willst du den Kern haben, so musst du die Schale zerbrechen.“ Ein gutes kontemplatives Gebet lautet für Eckhart: „Ich bitte Gott darum, dass er mich quitt mache von Gott.“
Durch „Entbilden“ der Gotteskonzepte kommt man ins Reich der form-, bild- und namenlosen „Gottheit“. Eckhart nimmt Jesu Wort vom „arm sein im Geiste“ als Hinweis, sich in diesen vom Denken „entblößten“ Zustand zu versenken. Hier gibt es nichts als das „schweigende Dunkel“, eine Bewusstseinsstille, die er „Abgeschiedenheit“, „Wüste“ oder „Einöde“ nennt.
Die Tempelaustreibung deutet Eckhart mystisch: Wir selbst sind die Händler. Unser Geist ist so vollgestopft, dass wir das leere Zentrum, das Allerheiligste darin nicht erfassen. Jesus fegt für uns den Tempel unseres Bewusstseins, das Haus Gottes leer. Er ermöglicht den Durchbruch zum verborgenen Gott im Grund, dem „einigen Einen“. So wird der absolute Geist unmittelbar als Urgrund aller Phänomene erkannt. Dabei klebt man aber noch an feinsten Resten des Ichs fest, das auf Gott schaut. Eckhart hebt diese letzte Trennung zwischen Ich und dem eigenschaftslosen Göttlichen auf. Das Ich soll ganz in Gottes Nichts „versinken“: „Du sollst Gott lieben, wie er ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild ist. Mehr noch: wie er ein reines, klares Eines ist, fern von aller Zweiheit.“
Erst durch das letzte Lassen des Ich wird man eins mit dem „einzig einen Grund“, der alles Sein ermöglicht. Er ist gleichzeitig der Grund jedes Menschen, so wie er der Grund Christi und die „Innerkeit“ aller Dinge ist. Gott und Mensch haben in diesem tiefsten aller erfahrbaren Bewusstseinszustände eine verschmolzene Identität. Das ist der „höchste Adel“, den „Gott in die Seele gelegt hat“. Eckhart illustriert die Identität von Gott und Mensch so: „Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.“
Die Seele ist „in Gott überbildet mit Gott“ und „gottfarben“ geworden. Sie „wirkt“ in und mit Gott zum Wohl der Welt. In größter „Gelassenheit“ vom Ich zieht sie sogar das einfache Dienen der Kontemplation vor: „Wäre der Mensch so in Verzückung, wie es der heilige Paulus war, und wüsste einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfe, ich erachtete es für weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung ab und dientest dem Bedürftigen in einer größeren Liebe.“