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“Die Frage ist: Tanze ich meinen Lebenstanz?”

Tanzen ist eine uralte Ausdrucksform des Menschen. Warum es auch bei der Behandlung von psychischen Krankheiten helfen kann und warum wir alle wieder mehr tanzen sollten, erklärt die Tanztherapeutin und Leiterin des Europäischen Zentrums für Tanztherapie in München, Susanne Bender.

epd: Viele Leute sagen: „Ich kann nicht tanzen“. Woher kommt das?

Susanne Bender: Jeder kann tanzen! Tanzen gehört zum Menschen dazu: Wenn Sie einem Kind mit sechs, sieben Monaten Musik vorspielen, fängt es an, sich im Rhythmus dazu zu bewegen. Leider verlernen wir es irgendwann. Statt nach dem Lustprinzip gehen wir nach dem Leistungsprinzip, denken in normativen Konzepten, dass das Tanzen schön aussehen muss, was immer das heißt. Tanzen ist also nichts, was wir erlernen müssen, sondern wir müssen es sozusagen wieder ausgraben.

„Ich kann nicht tanzen“, bedeutet ja eigentlich, ich habe Angst mich zu beschämen. Wenn ich aber nur tanzen kann, wenn mich keiner sieht, ist das eigentlich total traurig. Das heißt ja, nur dann traue ich mich, ich selbst zu sein – und sobald jemand da ist, verbiege ich mich. In der Tanztherapie versuchen wir, Menschen Mut zu machen, zu ihrer eigenen Persönlichkeit zu stehen.

epd: Worum geht es in der Tanztherapie?

Bender: Kurz gesagt ist Tanztherapie Psychotherapie mit Bewegung. Es geht darum, psychische Themen über Tanz und Bewegung zu erkunden, weil der Körper noch mehr Informationen darüber bereithält, als unsere Gedanken. Das sind Themen wie: War ich als Kind willkommen auf dieser Welt? Wie werde ich gesehen? Erlebe ich, dass mein Temperament okay ist oder habe ich das Gefühl, ich sollte eigentlich anders sein?

Wenn Menschen immer versuchen, jemand anderes zu sein, gelingt ihnen das zwar manchmal. Aber sie zahlen einen hohen Preis dafür, in Form einer dauerhaften Anstrengung, die man dann eben auch im Körper sieht, etwa in Form von Muskelanspannungen. Die können dann – meistens so in der Mitte des Lebens – zu einer Erschöpfung führen. Hinter vielen Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen steht der Gedanke: Ich bin falsch und versuche, jemand anderes zu sein.

epd: Wie kann die Tanztherapie hier helfen?

Bender: In der Therapie geht es darum, das Grundtemperament wieder auszugraben, um entsprechend der eigenen Persönlichkeit zu leben. Das Spannende ist, dass dieses Grundtemperament im Körper noch vorhanden ist – es geht nicht verloren. Selbst wenn Menschen sich sehr neurotisch verbogen haben, konnten sie in ihrem Körper noch etwas von dem bewahren, wie sie eigentlich sind. Das zeigt sich nicht in dem, was sie sagen, sondern das zeigt sich in der Bewegung.

Es geht darum, sich wahrhaftig zu zeigen. Die Frage ist: Tanze ich meinen Lebenstanz? Es geht in der Therapie darum, Menschen zu helfen, das zu erleben und zu spüren, was in ihnen drin ist und dem einen Ausdruck zu geben, damit es sichtbar werden kann. Es geht immer um dieses Eintauchen in das, was eigentlich ist, darum, das Eigentliche zu finden: das eigentliche Temperament, das eigentliche Thema.

epd: Sollten wir alle mehr tanzen?

Bender: Unbedingt! Ursprünglich war Tanz ja ein fester Bestandteil im Jahresrhythmus einer Gesellschaft: ob das ein Kriegstanz war oder etwa Trauertänze. Man hat sich auf dem Dorffest getroffen und alle haben getanzt. Dass man sich hinstellt und Tanz zuschaut, ist eine relativ junge Entwicklung – genau wie diese Aufteilung in Menschen, die tanzen können und Menschen, die zuschauen. Da ist uns wirklich was verloren gegangen.

Wenn alle zusammen tanzen, Alt und Jung, verbindet das: Tanz ist ein wichtiges Element für Gemeinschaftsgefühl. Es gibt eine große Sehnsucht, nicht einsam zu sein, sondern sich eingebunden zu fühlen. Und das geht über einen gemeinsamen Rhythmus. Mein Appell zum Tag des Tanzes ist also: Du kannst tanzen! Fang an, ab sofort, hier und heute. (1399/25.04.2025)