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Die elementare Macht der Bilder

Die jüngste documenta warf erneut die Frage nach Chancen und Grenzen der Kunst auf. Schon seit der Antike treibt die Menschen das Thema um. Der Marburger Kunsthistoriker Hubert Locher gibt Einblicke und Einsichten.

“Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen: Was ist Kunst? Möglicherweise gehen wir an die Grenzen dessen, was wir unter Kunst und Kultur verstehen”, mahnte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grün) schon im Vorfeld der documenta fifteen. Die Auseinandersetzung um die antisemitische Bildsprache des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi erschütterte dann die jüngste Kassler Schau zur Gegenwartskunst in ihren Grundfesten.

Für den Marburger Kunsthistoriker und Direktor am Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte, Hubert Locher, zeigt sich darin nicht zuletzt jene “elementare Macht der Bilder”, die auch zum “Nachdenken über das, was Kunst ist”, anregt.

Er selbst hat dazu im C.H.Beck-Verlag ein äußerst anregendes Buch vorgelegt: “Kunsttheorie – von der Antike bis zur Gegenwart”. Wer sich auf der Höhe der Zeit umfassend und doch überschaubar über die Reflexionen zur Kunst in Europa informieren möchte, dem sei dieses Werk empfohlen. Aus der schier uferlosen Literatur zu dem Thema hat der Wissenschaftler wesentliche Beiträge ausgewählt und ein klares und gut lesbares Studienbuch vorgelegt, das auch für den interessierten Laien verständlich bleibt. Was gerade in diesem Bereich alles andere als selbstverständlich ist.

Bevor Plato, Aristoteles oder Seneca als Vertreter der Antike zu Wort kommen, erläutert Locher zunächst, worum es bei der Kunsttheorie überhaupt geht. Denn eine eigenständige philosophische Betrachtung der Kunst im Sinne einer Ästhetik bildete sich erst im 18. Jahrhundert heraus. Davor werden die Überlegungen eher in Traktaten oder Reflexionen von Künstlern über das eigene Werk behandelt.

Unter dem Thema “Können und Schönheit” entfaltet Locher die philosophische Grundlegung im Verständnis von Kunst und Kunsttheorie bei den Griechen und Römern. Dazu gehört die Überzeugung, dass die Betrachtung des als schön wahrgenommenen Werkes zur geistigen Erhebung beitragen kann.

Für das Mittelalter gilt dann die “metaphysische Formel”: Kunst dient der Kontemplation. Dabei kommen die Überlegungen sowohl der lateinischen Überlieferung des Westens als auch die byzantinischen des Ostens zur Sprache. Zentral ist dabei auch die Auseinandersetzung um den richtigen Gebrauch des Bildes im Christentum – in Abgrenzung zu Idolatrie oder Götzendienst. Denn nicht das Bild soll angebetet werden, sondern derjenige, auf den es verweist. Maßstab ist nicht mehr allein die Nachahmung des Naturschönen; es sind auch die wissenschaftlich ermittelten Prinzipien der Schöpfung, als Regeln Gottes. Kunst dient der Vermittlung der Heilsgeschichte und der Verehrung Gottes. Umso mehr Wert wird auf Material und Kunsthandwerk gelegt.

So folgt Locher den einzelnen Epochen wie den wesentlichen Repräsentanten chronologisch weiter über die Renaissance, den Barock bis in die Neuzeit. Durch die Verwobenheit von Kunst und Kultur ist das Buch zugleich eine spannende Kultur- und Geistesgeschichte. Je mehr sich Locher der Moderne nähert, desto mehr folgt er einer systematischen Darstellung, um das Nebeneinander unterschiedlicher Theorien darzulegen. Das betrifft sowohl die Frage nach dem Wesen des Kunstwerks wie nach Funktion und Selbstverständnis des Künstlers, bis hin zu Themen wie der Autonomie der Kunst.

Dabei kommen die wichtigsten Theoretiker und Künstler mit ihren Manifesten zu Wort: Von Kant und Hegel über John Ruskin, Martin Heidegger oder Hans-Georg Gadamer bis zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule mit Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. Aufschlussreich ist nicht zuletzt die Entwicklung der Kunsttheorie nach der Nazi-Barbarei und die vom Grundgesetz hervorgehobene Freiheit der Kunst. Sie wendet sich gegen jede politische Instrumentalisierung von außen, um gerade auch ihre Unabhängigkeit in politischer Hinsicht zu schützen.

Auf mehr als 450 Textseiten legt Locher ein spannendes, unterhaltendes und in jedem Falle lehrreiches Werk vor.