Von Veit Hoffmann
Die Decke der Zivilisation ist dünn, manchmal sehr dünn.
Junge Menschen aus Europa und auch aus Berlin schließen sich den IS-Milizen an. Sie tun das freiwillig. Sie sind begeistert von Köpfungsvideos und abenteuerlich anmutenden Propagandaclips mit Jeeps und schweren amerikanischen Waffen. Sie finden die Enthauptungen und das brutale Vorgehen der IS-Schergen nicht abstoßend sondern anziehend.
Sie pilgern nicht in islamische Staaten, in denen solche menschenverachtenden Methoden sozusagen offiziell und in „geordneten Bahnen“ vonstatten gehen. Wo die Scharia herrscht. Beispielsweise nach Saudi Arabien. Hier sind Enthauptungen an der Tagesordnung, zudem öffentlich. (Kürzlich wurde dort in den Medien diskutiert, ob Kinder bei öffentlichen Hinrichtungen anwesend sein dürfen.) Raten Sie mal was dort mit Homosexuellen, bekennenden Christen oder Frauen, die selbstbestimmt leben wollen geschieht! In solchen Ländern müssten die jungen Leute aus Europa und Berlin sich streng unterordnen und dürften auch nicht selbst foltern, Schwule an Baukrähnen aufknüpfen und auch nicht selbst Köpfe abschneiden. Das übernehmen dort staatlich geprüfte Profis. Unterordnen wäre nicht ihr Ding. Ihren Frust und ihr Versagen können sie jetzt in der fast beispiellosen Raserei der IS-Milizen entladen.
Mich erinnert das an den ersten Kreuzzug (1096 bis 1099), den Papst Urban II in einer flammenden Rede auf der Synode von Clermont ausrief. Zwischen Bagdad und Kairo kam es damals zu schweren innerislamischen Auseinandersetzungen. Die populären christlichen Pilgerfahrten nach Jerusalem waren dadurch massiv gestört. Der Kaiser von Byzanz (heute Istanbul) bat den Westen um Hilfe und eine fanatische, von diversen Wanderpredigern aufgestachelte Masse machte sich auf den Weg. „Gott will es!“ riefen sie. Und der Papst versprach allen Teilnehmern Ablass und Sündenvergebung. Zwischen 50 000 und 70 000 Menschen brachen damals auf. Ihr Zug durch Europa bis nach Byzanz glich einer blutrünstigen Raserei, die vor allem Andersgläubige traf. Man verstand diese Gewalt als Dienst an Gott. In Byzanz hingegen war man entsetzt, was für eine primitive, brandschatzende Horde da ankam. Die Seldschuken beendeten schließlich diesen ersten Kreuzzug.
Zurück zu den modernen Kreuzfahrern, die im Namen Gottes nun töten und brandschatzen. In der BILD DER FRAU las ich die Kolumne von Notker Wolf. Oberster Mönch der Benediktiner mit Sitz in Rom. Er versucht zu verstehen und schreibt, dass unsere Wohlstands- und Spaßgesellschaft diesen Leuten nichts zu bieten habe. Er fragt nach den Perspektiven unserer Kinder: „Karriereleiter erklimmen und im Geld schwimmen?“ Ich denke, darum geht es nicht. Erstens erklimmen diese Leute schwerlich die Karriereleiter und werden zweitens auch nicht im Geld schwimmen. Das tut nicht mal die Mittelschicht.
Diese Leute lassen sich anziehen durch die einfachen, leicht verständlichen Regeln der IS. Sie wollen sich selbst einmal als bedeutsam erleben. Einmal auf der Gewinnerseite stehen. Einmal Sieger sein. Nicht nur als Bittsteller ohne Ausbildung auf den Fluren der Jobcenter warten. Wie soll eine Gesellschaft darauf reagieren? Mit Sozialprogrammen? Mit unbeugsamer Härte? Beides halte ich für nicht geeignet.