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Die blöde Wirklichkeit

Die Landessynode hat „Orientierungspunkte für den Reformprozess“ beschlossen, die jetzt in den Gemeinden diskutiert werden sollen. Dazu gehört auch ein Fragebogen, den sich Jörg Michel schon mal angesehen hat.

Von Jörg Michel

„Welche Kirche morgen?“ – ein großes Werk liegt vor mir, das mit Leidenschaft und Akribie entworfen wurde und nun die Christen in der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) erreichen will. Ich gebe zu, dass in den letzten Jahren die Beschäftigung mit den kirchlichen Reformpapieren „Kirche der Freiheit“, „Salz der Erde“ und so weiter nicht ganz oben auf meiner Prioritätenliste stand. Als Pfarrer in Hoyerswerda bin ich gemeinsam mit einer Kollegin zuständig für eine (Neu)-Stadtgemeinde und eine Dorfgemeinde. Schon interessant, wie deren Lebenswelten anders ticken und unterschiedliche Formen von Gemeindearbeit erfordern. Seit vorigem Sommer nun sind zwei Gemeinden als Vakanz-Not-Versorgung dazugekommen. Zeit ist daher knapp bemessen. Darum meine erste Kontrollfrage – antrainiert durch zahlreiche Reform- und Effizienzanstöße: Bringt dir dieses Papier etwas für deine Gemeindearbeit? Die Punkte „Geistlich leben“, „Missionarisch handeln“, „Zielorientiert planen“, „Verantwortlich haushalten“ wollen Orientierung bieten. Eine Rückmeldung wird für den Reformprozess erbeten mit einem entsprechenden Fragebogen. Die Aussagen des Fragebogens, die bewertet werden sollen (am wichtigsten / dringender Verbesserungsbedarf), klingen für mich wie Postulate – vielleicht ist dies auch nicht anders möglich. Sie erinnern mich – die Verfasserinnen und Verfasser vergeben mir bitte – etwas an Erste-Mai-Losungen: wir üben …, wir nehmen …, wir entwickeln …, wir sehen …, wir nutzen … und so weiter. Da kommt eine gewisse Machermentalität herüber, eine „Yes, we can“-Stimmung.

Einladende Gemeinde sein

Ich suche nach dem unverfügbaren, unberechenbaren Input Gottes und werde natürlich bei „Geistlich leben“ fündig: „Wir beten um Wachstum“ – (hier sollte man noch einfügen können, wie oft und wie lange) – aber gleich kommt ein aktionistischer Rückfall: „und wir arbeiten für Wachstum.“ Für die Aussage: „Das Ziel, Austritte zu vermindern und Eintritte oder Wiedereintritte zu vermehren, muss weiter intensiv verfolgt werden“ schlage ich die Kurzformel vor: „einladende Gemeinde sein“. Vielleicht wären damit die sekundären Merkmale wie Aus- und Eintritt erledigt?! „Die landeskirchlichen Einrichtungen entwickeln ihre Programmangebote in ständiger Wahrnehmung der Bedürfnisse der Gemeinden.“ Da bin ich aber gespannt, ob der manchmal so sinnlosen Verteilung von Papierwerbung in unserer Landeskirche Einhalt geboten wird. Es fährt wirklich keiner aus Hoyerswerda zu einer Abendveranstaltung nach Berlin, ehrlich. „Wir stehen öffentlich und geschlossen dafür ein, dass die Kirchensteuerfinanzierung eine sachgemäße und effektive Finanzierung für eine Kirche ist (…).“ Jetzt regt sich in mir der Protestant. Ein Bekenntnis zum Kirchensteuersystem nehme ich nicht in mein Credo auf. Wer über den Tellerrand blickt, sieht, dass dieses System im europäischen Maßstab für christliche Kirchen einzigartig ist. Ob es zur „Kirche von morgen“ gehört, bezweifle ich. Da weitere Spitzensätze meine Fragen eher vermehren, suche ich nach dem Ziel dieses Papiers. Wie es sich für ein solch strukturiertes Werk gehört, ist dies ordentlich und farblich abgesetzt beigefügt: „Selbstverständnis EKBO ist geklärt“ sowie als Unterpunkte unter anderem „es gibt einen landeskirchlichen Konsens“ sowie „es gibt eine Zugewinn an Erkenntnis der Außenwahrnehmung der EKBO“.

Wer ist eigentlich „EKBO“?

Wer ist eigentlich „EKBO“? Ist das die Kirche, die Groß-Gemeinde von morgen? Landeskirchliche anstatt gemeindliche Identität? Wer ist eigentlich Kirche? Nach meiner Erfahrung und dem Blick auf die Grundordnung zuallererst die Kirchengemeinden. Alles andere ist nachrangiger beziehungsweise dienender Zusatz. „Kirche von morgen“ wird daher je nach örtlicher Situation sehr verschieden aussehen müssen – wenn sie ihre Wirklichkeit vor Ort ernst nimmt. Wird der Konsultationsprozess mit seinem Ergebnis „Abschlusspapier Landessynode Frühjahr 2014“ neue Anstöße bringen für die Gemeindearbeit vor Ort? Oder kommt es bei der Synchronisierung, bei dem „Eindampfen“ der so unterschiedlichen Situationen nur zu Allgemeinplätzen? Ich weiß es nicht.Aber, Entschuldigung, mehr Zeit habe ich jetzt nicht. Eine Beerdigung muss vorbereitet werden – die fünfte in zehn Tagen. Gleichfalls ein Gemeindeabend – das schiebe ich schon seit einigen Tage vor mich her. Die Kantorin wartet auf die Lieder für Sonntag. Und die beiden Söhne machen ihre Hausaufgaben auch nicht allein. Immer diese blöde Wirklichkeit …

Reformprozess: Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz beschreibt in ihren Reformpapieren „Salz der Erde“ Projekte zur Umsetzung des seit 2007 gestarteten Reformprozesses. Ziele sind eine Verbesserung der Kommunikation, Fortbildung der Mitarbeiter sowie eine stärkere Einbeziehung der Gemeinden. Im Fokus steht die Orientierung der Kirchengemeinden nach außen.