Artikel teilen:

Der “Weltknuddeltag” erinnert an ein urmenschliches Bedürfnis

Er mutet kurios an – doch der “Weltknuddeltag” hat einen wissenschaftlichen Hintergrund: Körperkontakt ist für das menschliche Wohlempfinden unverzichtbar. Fachleute beklagen, dass Berührungen trotzdem keine Lobby haben.

“Es ist traurig”, sagt Tobias Frank: “Wir berühren die Bildschirme unserer Smartphones häufiger als wir andere Menschen halten, eine tröstende Hand oder eine Umarmung schenken.” Der Vorsitzende des “Netzwerk Berührung” im nordrhein-westfälischen Nideggen weiß es deshalb zu schätzen, dass der “Weltknuddeltag” jedes Jahr am Sonntag auf die Bedeutung von Berührungen aufmerksam macht. Der niedliche Ausdruck “knuddeln” erscheint ihm für dieses ernsthafte Anliegen indes nicht ganz passend. “‘Tag der Umarmung’ würde mir zum Beispiel besser gefallen”, sagt Frank.

Dem Partner sanft über den Rücken streichen, einem Patienten am Krankenbett die Hand halten, die einsame Oma beim Abschied in den Arm nehmen – diese liebevollen Gesten können beim Gegenüber positive Gefühle wie Freude, Geborgenheit, Sicherheit und Trost hervorrufen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie nicht mechanisch, sondern achtsam ausgeführt werden – und dass die Berührung von beiden Seiten erwünscht ist.

Tobias Frank warnt davor, andere am Weltknuddeltag, der 1986 in den USA ins Leben gerufen wurde, mit ungewollter Nähe “zwangsbeglücken” zu wollen. “Ich weiß, wie wichtig es heutzutage ist, sich vor übergriffigen Berührungen zu schützen”, sagt der Experte. Deshalb könne es immer nur um wohlwollenden Körperkontakt gehen, nie um erzwungenen und auch nicht um sexuelle Anzüglichkeiten.

Werden Berührungen als angenehm empfunden, schüttet das Gehirn Studien zufolge Botenstoffe aus, die das Wohlbefinden steigern. So sorgt beispielsweise das “Glückshormon” Serotonin für eine positive Stimmung, während Oxytocin die soziale Bindung zwischen den Menschen festigt. Untersuchungen belegen zudem, dass Streicheln oder die Hand zu halten eine blutdrucksenkende und stressmindernde Wirkung hat und das Immunsystem stärkt.

Vor allem bei Neugeborenen und Kindern kann mangelnder Körperkontakt psychische und physische Schäden verursachen. “Berührungen haben trotzdem keine Lobby”, mahnt Frank. “Es gibt immer noch zu wenig Forschung auf diesem Gebiet und kein wirtschaftliches Interesse, Umarmungen bei bestimmten Leiden unterstützend einzusetzen.”

Dies bedauert auch Milka Reich. Sie arbeitet im Raum Berlin als professionelle Berührerin und wird immer wieder zu blinden oder alten Menschen gerufen. “Die Senioren werden in den Heimen zwar gepflegt, aber nur selten behutsam gestreichelt”, berichtet Reich. Bei ihnen sei ein regelrechtes Aufblühen zu erkennen, sobald sie ihnen körperliche Zuwendung schenke – durch Händedruck, Massagen oder Umarmungen, je nach Wunsch. “Auch bei trauernden oder sterbenden Menschen ist es immens wichtig, dass sie durch Berührungen eine Verbindung zu anderen spüren und sich in ihrer Not nicht einsam fühlen”, sagt die Expertin. Schließlich sei der Tastsinn auch dann noch aktiv, wenn ein Mensch nicht mehr bei Bewusstsein sei und kaum noch atme.

Wie wichtig es ist, den Händedruck oder die Umarmung einer anderen Person zu spüren, haben viele Menschen während der Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie realisiert. “Damals wurden Berührungen als gesundheitliches Risiko stigmatisiert”, erinnert sich Frank. Zugleich sei die Suche nach einem einigermaßen gleichwertigen Ersatz erkennbar gewesen. Die Begrüßung per Ellenbogen-Bump, das Winken aus der Ferne oder der Fersen-Kick hätten jedoch nur die wenigsten wirklich überzeugt – und sich kaum durchgesetzt.

Wer alleine lebt und regelmäßige Berührungen vermisst, dem rät Profi-Berührerin Reich, sich zumindest selbst die Füße zu massieren oder hin und wieder etwas Zeit im warmen Wasser zu verbringen. Auch mit einem Haustier, so die Fachfrau, ließen sich körperliche Nähe und Interaktion recht gut herstellen.

Das Ziel des Weltknuddeltags, nämlich ein zugewandteres Miteinander, sei mit solchen Lösungen allerdings nicht zu erreichen. “Mein Traum ist, dass wir alle irgendwann diesem Thema so viel selbstverständliche Aufmerksamkeit schenken wie der Wahl unserer Kleidung”, meint Tobias Frank. Bis dahin, betont Milka Reich, sollte es in jedem Altenheim oder Krankenhaus ausgebildetes Personal geben, das mit Berührungen für mehr Wohlbefinden und eine schnellere Genesung sorgt.