Von Franziska Hoffmann
Jeden Tag überquere ich die Bernauer Straße. Völlig unbedarft wechsele ich die Straßenseiten, gehe einkaufen oder fahre mit der S-Bahn vom Nordbahnhof. Dass hier vor 60 Jahren eine Grenze in Form einer Mauer erbaut wurde, dass Bahnhöfe nicht angefahren wurden, kann ich mir alles nur sehr schwer vorstellen.
Ich wurde 1986 in der Charité geboren und lebte mit meiner Mutter im Grenzgebiet auf der Ostberliner Seite. Wir gingen täglich ein Stück an der Mauer entlang, um in den Kindergarten zu gehen. Der heutige Mauerstreifen, mittlerweile als Gedenkstätte ausgebaut, durchzog als mahnende Schneise die Kieze, in denen ich groß wurde. Ein unheimlicher Ort war die ehemalige Todeszone für mich.
Als ich kurz nach dem Mauerfall zum Drachensteigen mit meinem Vater die freie Fläche zwischen den noch stehenden Mauerresten nutzen wollte, war er davon gar nicht begeistert. Als ich dann noch anfing, Kind, welches ich eben war, im Sand zu buddeln, da zog er mich hoch und sagte streng, ich solle hier nicht zu tief und überhaupt gar nicht buddeln. Zu groß war seine Angst, ich könnte noch auf militärische Hinterlassenschaften stoßen. Diese Furcht beeindruckte mich sehr und ich vermied es fortan, mich länger auf dem Streifen aufzuhalten.
Auch beeindruckten mich die Geschichten über die Mauer: die tragischen Todesfälle, die spektakulären Fluchtversuche und die ganz persönlichen Geschichten von getrennten Familien. So floh der Sohn unserer Nachbarin im Sommer 1989 in den Westen und sie dachte, es wäre eine Trennung auf ewig. Tatsächlich habe ich die meiste Zeit meiner Kindheit auf der Ostberliner Seite verbracht und war immer ein bisschen aufgeregt, wenn ich die ehemalige Grenze überquerte.
Der Wedding sah für mich anders aus: bunter, aber nicht hübscher. Nein, ich fand die Bauten an der westlichen Brunnenstraße sogar hässlich und einschüchternd. Gewohnt war ich eine klassische graue Mietskaserne im dritten Hinterhof, wo alles nach Katzenklo, feuchten Kellern und Asche roch. Man gewöhnt sich wohl an alles. So gewöhnte ich mich auch daran, die Grenze mit zunehmender Bebauung und Verschönerung nicht mehr wahrzunehmen.
Als ich 14 Jahre alt war, zogen meine Mutter und ich sogar in den Wedding um. Seitdem lebe und arbeite ich hier und ich liebe Berlin. Ganz Berlin. Meine Ostberliner Urkieze und Stammkneipen im Prenzlauer Berg, meinen Fußballverein des Herzens in Charlottenburg, die Konzerte im SO36, den CSD, die unzähligen Kinos der Berlinale. Wie grenzenlos kann eine Stadt eigentlich noch sein?! Ich kann meine Privilegien genießen. Viele andere Menschen können das nicht. Die zunehmenden konservativen und patriotischen Stimmen in Deutschland, aber auch bei unseren europäischen Nachbarn machen mir Sorgen. Populisten machen Rassismus wieder salonfähig. Jede menschenverachtende Äußerung ist ein weiterer Stein für die abgrenzende Unmenschlichkeit in unseren Köpfen.
1961 wurde die Mauer laut der DDR-Regierung als antifaschistischer Schutzwall vor den imperialen westlichen Mächten gebaut. Doch was sie eigentlich beschützte, war die Abkehr, einen Exodus einer Gesellschaft gegenüber der Staatsmacht. Geblieben war ein gemauertes Gebot: Du darfst nicht frei sein. Um das Wohl einer Gesellschaft zu schützen, so dass sich jede*r in ihr sicher fühlt, nutzt der Bau einer konservierenden Mauer nichts. Denn die Stimmen nach Gleichberechtigung und Freiheit verstummen auch hinter den höchsten Hürden nie. Es benötigt nur einen gesellschaftlichen Konsens, diese zusammen zu überwinden.