„Kirchen sind Hoffnungsgemeinschaften“, sagt der rheinische Präses Thorsten Latzel. Der leitende Theologe der Evangelischen Kirche im Rheinland findet es bedauerlich, dass viele Menschen der Kirche, und damit dem Glauben, den Rücken zuwenden. „Unsere Gemeinden bieten den Menschen sehr viel: Man lernt hier, zu hoffen, zu glauben, anderen zu vertrauen, sich sozial zu engagieren“, sagt er. „Letzteres kann man etwa auch in Sportvereinen, aber auch da gehen die Mitgliedszahlen zurück.“ Thorsten Latzel nennt verschiedene Gründe dafür, dass sich Menschen mehr zurückziehen. Die Corona-Pandemie hat einen Teil dazu beigetragen. „Oft gibt es Kontaktverluste oder das Gefühl der Irrelevanz. Auch die Fälle sexualisierter Gewalt tragen dazu bei. Da tun wir alles, um aufzuarbeiten und vorzubeugen. Kirche muss ein geschützter Raum sein, ein ,safe space‘ für jeden Menschen.“
Die Kirche erzählt von Gott und bietet Gemeinschaft
Wichtig ist ihm der Unterschied zwischen Kirche und Glauben. Ohne Glauben gibt es keine Kirche. „Kirche als Institution ist kein Selbstzweck. Es geht darum, von Gott zu erzählen, Menschen in ihrem Leben zu stärken, sich für Schwache einzusetzen.“ Einen weiteren wichtigen Aspekt sieht der Präses in der Gemeinschaft. „Ohne Gemeinschaft hat der Glaube auf Dauer keinen Bestand. Es gibt Wahrheiten, die ich mir selbst nicht sagen kann. Glaube ist immer persönlich, aber nicht privat.“
Früher wurde der Glaube nahezu selbstverständlich von Generation zu Generation weitergegeben. Oft haben Großeltern dabei eine wichtige Rolle eingenommen. Das ist heute nicht mehr so. Dennoch bleibt bei vielen eine Sehnsucht. Kürzlich sagte der Benediktinerpater Anselm Grün in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst: „Viele Menschen haben ein Bedürfnis nach Spiritualität, aber nicht nach Kirche. Denn mit ,normalen‘ kirchlichen Angeboten wie Gottesdiensten können sie wenig anfangen.“ Doch der Münsterschwarzacher Benediktinermönch erlebt, „dass in jedem und jeder eine Offenheit und Neugier für den Glauben steckt“. Die Sehnsucht nach Sinn im Leben bewegt Menschen.
In Lebenskrisen und Lebensübergängen finden viele zum Glauben zurück
Nach seiner Ansicht müssen die Kirchen an ihrer Glaubwürdigkeit arbeiten. Die Kirche moralisiere und fordere zu viel von den Menschen und könne diese Ansprüche als Institution oft selbst nicht erfüllen. „Wir sollten Menschen Angebote machen, die ihnen helfen, sie begleiten bei den Fragen des Lebens, nach dem Sinn des Lebens“, betont Anselm Grün.
Das sieht Präses Thorsten Latzel ähnlich. Er erlebt, dass Menschen gerade in Krisen und schweren Zeiten Trost und Perspektive suchen. „Dann merken Menschen, worauf es im Leben ankommt und können im Glauben Hoffnung finden.“ Ebenso bei Übergängen im Leben ist die Kirche gefragt. „Das sind die Situationen, wo wir Menschen mit Segen und Ritualen begleiten können. Hier gibt es viele kreative neue Ansätze. Segensbüros, Tauffeste und Internetangebote der Kirche werden angenommen.“ Vor allem braucht es Angebote für junge Menschen. Präses Latzel legt großen Wert auf Religionsunterricht. „Aber auch Angebote wie Konfirmanden-, Jugendarbeit und Kindergärten sind unverzichtbar“, sagt er. „Es ist gut, wenn der Glaube schon Kindern vermittelt wird. Erwachsenen fällt es oft schwerer, zum Glauben zu finden.“
Jeder Mensch strebt nach einem Sinn im Leben
Für den rheinischen Präses ist sein Glaube an Gott das Fundament seines Lebens, das auch in Krisen trägt. Er zitiert Viktor Frankl: „Gott ist das Gegenüber in Momenten letzter Einsamkeit.“ Der Österreicher Viktor Frankl (1905-1997) war Neurologe und Psychiater. Wegen seiner jüdischen Herkunft hat er viel Leid erfahren und geliebte Menschen verloren. Er selbst hat das Konzentrationslager überlebt und schildert seine Erfahrungen in dem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen“. Er war der Überzeugung, dass ihm das Überleben gelang, weil er trotz allem Elend noch Sinn in seinem Leben fand.
Die von Frankl begründete Logotherapie beruht auf seiner Überzeugung, dass der Mensch nach einem Sinn im Leben strebt und dass er krank wird, wenn er keinen Sinn in seinem Leben sieht. Viktor Frankl ging davon aus, dass der Mensch von Natur aus an Gott glaubt, wenn auch oft unbewusst. Menschen können durch das Engagement für andere oder für Gott Sinn finden, so Frankls Erfahrung. Dabei legte er sich nicht auf eine Religion fest, betonte jedoch, dass eine persönliche Gottesbeziehung hilfreich ist.
Das ist auch die Erfahrung Thorsten Latzels. „Unsere Mutter hat uns früh aus der Kinderbibel vorgelesen, mit uns gebetet. Gott gehörte für mich immer dazu. Schon als Kind habe ich die biblischen Geschichten geliebt.“ Er kommt beim Beten zur Ruhe. „Mir hilft es, wenn ich meine Sorgen loswerde und klagen kann. Und ich erfahre die eine allumfassende Liebe. Das ist das Schöne am Glauben: Man ist nie allein.“ Gleichzeitig betont er: „Der Glaube an Gott macht das eigene Leben nicht einfacher, aber reicher, schöner und tiefer. Gott ist Liebe und wenn ich daran glaube, verändert das mein Leben.“