„Verraten und verkauft“ – mit dieser Redensart wird das Handeln des Jüngers Judas Ischariot seit Jahrhunderten auf den Punkt gebracht. Was ist sein „Verrat“? Es ist der Bruch des Vertrauensverhältnisses zu Jesus, seinem Freund, Zerstörung, ja Vernichtung des Vertrauens durch eine Handlung, die allem widerspricht, was er an Gutem mit seinem Herrn erfahren hatte.
Die Untat des Judas gipfelt in einem Kuss. Es ist der berühmteste Kuss der Weltgeschichte: Der Kuss, mit dem Judas im Garten Gethsemane Jesus identifiziert und ihn damit an die Häscher verrät. Dieser verräterische Kuss gilt bis heute als äußerster Akt der Abscheulichkeit und des Treubruchs, obwohl es in der Geschichte der Kirche auch andere Verratstaten gegeben hat, die an den „Judas-Kuss“ heranreichen.
Der Jünger Judas aber verrät und verkauft Jesus an den Hohen Rat für dreißig Silberstücke. So sorgt er dafür, dass Jesus im ursprünglichen Sinne „verraten und verkauft“ wird. Aus dem Apostel Judas wird der Verräter, der Verruchte. Sein „Judas-Kuss“ markiert in der Folge auch den Beginn des christlichen Judenhasses, des Antijudaismus. Judas wird zur Ausgeburt des Bösen, zum Sinnbild von Habgier und Verrat. Aber was kommt dabei heraus? Weil er seine Tat rückgängig machen will, erhängt er sich in äußerster Verzweiflung – der Legende nach – am „Judasbaum“.
Und was folgt nun? „Künstler“ haben ihm durch Jahrhunderte hindurch sein Haar feuerrot gefärbt, wie bei einem, der in der Hölle glüht. Und sie haben ihm einen gelben Mantel umgehängt, gelb wie der Judenstern, der später an den Mänteln derer prangen sollte, die in die Hölle von Auschwitz deportiert wurden. Judas wurde zum Sündenbock erklärt, auf den man alles laden konnte, was unerlöst geblieben war.
Bei all diesem wohlfeilen Abscheu gegenüber dem Verräter ist nun allerdings im Blick auf Judas Entscheidendes übersehen worden. Zunächst: Judas nimmt am Abendmahl teil und erfährt, dass er – wie alle Jünger – Brot und Wein zur Vergebung der Sünden von Jesus erhält. Bleibt das folgenlos?
Und es wird oft übersehen, was zwischen dem Verrat und der Selbsttötung des Judas eigentlich geschieht, nämlich ein Akt ungeheuchelter Reue. Er bringt die dreißig Silberstücke zu den führenden Priestern und Ratsältesten zurück und sagt: „Ich habe große Schuld auf mich geladen. Ein Unschuldiger wird getötet, und ich habe ihn verraten und verkauft“ (Matthäus, 26, 3f.).
In der Enttäuschung über die Tat des Judas, in seiner Verfemung als größter Verbrecher wird oft dieses Ende nicht mehr wahrgenommen. Man muss dem Verräter Judas zugute halten: Er ist der Einzige, der als Beteiligter in der Passion Jesu und am Justizmord erkennt, dass Jesus gänzlich verraten und verkauft wird und dass ihm darin schwerstes Unrecht geschieht. Und er ist der Einzige, der diese Schuld einsieht und öffentlich bekennt. Ja, Judas allein kehrt um von dem Irrtum und der Untat, in die er sich verstrickt hat. Er bereut. Von keinem, die sonst mitverantwortlich waren am Leiden und Sterben Jesu, wird das gesagt. Die Jünger fliehen.
Petrus ist feige – „und weint dann heftig“. Pilatus waltet seines Amtes genauso wie die Hohen Priester. Das Volk gafft und schreit. Nur von Judas heißt es: „Es packte ihn die Reue.“
Das bleibt nicht folgenlos. Judas steht ein für das, was er getan hat. Er spricht aus, was uns allen auszusprechen schwer fällt: „Ich habe Schuld auf mich geladen.“ Keine Einschränkung! Keine abmildernde Entschuldigung! Nein, er benennt das Verbrechen, wie es kein Richter schärfer benennen könnte: „Ich habe ihn verraten und verkauft.“
Wirkliche Reue hat Konsequenzen. Wer aufrichtig bereut, muss sich selbst deshalb nicht so grausam richten, wie Judas es getan hat. Aber echte Reue ist mehr als ein dahingemurmeltes „Tschuldigung“. Sie lässt spüren, dass es denjenigen etwas kostet, der ausspricht, was er getan hat.
Judas spricht als Einziger die Wahrheit im Prozess aus: „Ein Unschuldiger wird getötet.“ Und dann vollzieht er an sich selbst das Urteil, das nach jüdischem Recht über den zu verhängen ist, der eine falsche Anklage erhoben hat. Denn falsche Ankläger sollen mit derselben Strafe bestraft werden, die sie über den bringen wollten, den sie angeschuldigt haben. Diese Strafe exekutiert Judas recht eigentlich an sich selbst.