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Das Lächeln aber bleibt

Die Krankheit ist für Seraina Hintermann-Famos ein „Lerngeschenk“. Das Wort scheint auf den ersten Blick unpassend. Die Autorin des Buches „Vogel ohne Flügel“, das kürzlich beim fontis-Verlag in Basel erschienen ist, schreibt über ihr Leben mit Multipler Sklerose, MS.

„Vogel ohne Flügel“ ist eine Auseinandersetzung mit der stetig fortschreitenden, unheilbaren Krankheit. „Früher habe ich Cellosonaten gespielt“, zitiert die Co-Autorin und Schweizer Literaturpreisträgerin Vera Schindler-Wunderlich in einem Gedicht ihre Freundin. Und weiter heißt es: „Erst lief ich verwackelt, dann lahmte und wankte ich, schließlich knickte ich ein.“ Aus der selbstständigen Pfarrfrau und Mutter dreier Söhne machte die Krankheit einen „Pflegling“, so ihre Worte in dem Gedicht.

„Vom Ringen mit Gott. Und vom Freisein trotz Multipler Sklerose“ lautet der Untertitel des Buches. „Freiheit war immer wichtig für mich, ich ging meinen eigenen Weg und suchte Freiräume, wo immer es ging“, sagte Seraina Hintermann-Famos dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit einem Lächeln erinnert sie sich daran, wie sie es sich etwa nicht nehmen ließ, in einem Fastnachtskostüm die Kirche in Luzern zu besuchen.

Nun aber sei Verzweiflung ein ständiger Begleiter seiner Frau, beobachtet der Ehemann, Daniel Hintermann. Mit jeder weiteren körperlichen Einschränkung komme ein neues Tief. Das sei jedes Mal sehr hart.

Jetzt bestehen die Freiräume fast nur noch in bewussten – therapeutisch motivierten – Willensentscheidungen. „Noch immer kann ich Stopp sagen, wenn meine Gedankenspirale mich nach unten ziehen will“, hält Seraina Hintermann-Famos fest.

Die Autorin rekapituliert die Zeit vor der Diagnose (2001) und gibt einen Einblick in ihren Alltag mit der Krankheit. Eingefügt sind psychologische Fachartikel, welche die Psychologin noch während ihrer Berufstätigkeit verfasste. Fotografien aus glücklichen Tagen sowie trostreiche Gedichte ergänzen die Schilderungen.

Auf die Frage, ob es Momente gab und gibt, in denen sie mit dem Schicksal gehadert hat, antwortet Seraina Hintermann-Famos, ja, sie hadere oft und klage bei Gott über ihr Elend. „Aber ich kann den Glauben nicht aufgeben, denn Gott lässt mich nicht aus seiner Hand. Ich bin zu stark verwurzelt im christlichen Glauben, höre täglich einen Abschnitt aus der Bibel und bete oft.“ Das seien „gute Gewohnheiten“ seiner Frau, sagt Daniel Hintermann, das mache sie so stark.

„Vogel ohne Flügel“ ist ein Buch, das nachhallt. Da ist zum einen die Krankheit, die schleichend, aber stetig den selbstständigen Aktionsradius verkleinert und die unvorhersehbar ins Leben einbricht. Da ist zum anderen der Mut und die Ehrlichkeit der Autorin, über die eigenen Gefühle – und nicht nur die schönen – zu schreiben. Da ist auch die deutliche Kritik am wenig einfühlsamen Umgang professioneller Institutionen mit unheilbar kranken Menschen.

Nicht zuletzt regt das Buch zum Nachdenken über Sinnfindung nach Viktor Frankls „Logotherapie und Existenzanalyse“ an. Die Logotherapeutin Seraina Hintermann-Famos erklärt den Ansatz Frankls in ihrem Buch auf verständliche Weise: Dadurch, dass der Mensch seine innere Einstellung zu den Lebensumständen selbst bestimmen kann, werden existenzielle Herausforderungen zu „Lerngeschenken“.

Dankbarkeit gehört dazu. Gefragt, wofür sie dankbar sei, sagt Seraina Hintermann-Famos zu ihrem Ehemann gewandt: „Für dich“. Und Daniel fügt hinzu: „Sie meint oft, sie sei eine Last für mich. Es ist aber so, dass die Krankheit die Last ist. Und die tragen wir gemeinsam.“ (2519/21.10.2023)