Von Dorothee Vakalis
Über 12000 Menschen sind in Idomeni gestrandet. Das Lager ist nur für 2500 Menschen angelegt, schnell hat man noch einige Großzelte für 1000 Menschen aufgestellt. Viele campieren in kleinen Zelten auf den umliegenden Feldern mit grünem Frühjahrsweizen. Rund 1000 Menschen liegen gar unter Bäumen im Freien. Es hat in den letzten Tagen immer wieder geregnet, Kinder spielen in den Pfützen, das Wetter scheint Erbarmen zu haben, tagsüber jedenfalls wärmt die Sonne und trocknet die Kleider. 40 Prozent der Geflüchteten sind Kinder. Kleinkinder, Schulkinder und unbegleitete Jugendliche. Sie tollen herum und manche spielen „Journalisten“ mit imaginären Kameras. Ich denke an meine behüteten Enkeltöchter und es zerreißt mir fast das Herz. Immer wieder verlieren Kinder ihre Eltern, dann müssen die Freiwilligen mit ihnen auf die Suche gehen.
Das Bild hat sich in den letzten Wochen geändert, ich sehe vor allem Familien, nur wenige sprechen Englisch. Doch es gibt auch einen Arzt aus Homs, er erzählt uns von der Privatklinik, die er zurückgelassen hat. Immer wieder treffen wir auf Alte, auf Rollstuhlfahrer und Menschen mit anderer Behinderung. Alle leben von der Hoffnung, doch noch irgendwie weiterzukommen. Das scheint ihnen Kraft und Ausdauer zu geben. Ich bewundere die unzähligen Menschen da draußen auf den nackten Feldern. Lebenstüchtig einfallsreich, und außerordentlich widerstandsfähig kommen sie mir vor. Manche sind schon seit 14 Tagen hier. Dann sehe ich eine junge Mutter, die schluchzt, Tränen laufen über ihre Wangen, sie schlägt sich auf die Brust und schaut mich fragend an. Wir schämen uns, mit wie viel Dankbarkeit und Neugier sie auf uns zukommen, wie sie sich über ein freundliches Wort oder einen Teller warmes Essen freuen, wir, denen es doch so gut geht, die wir uns abends nach einem anstrengenden Tag in Idomeni in die Badewanne legen können. Babis, der Koch in unserer Offenen Küche, ruft einem der vielen deutschen Reporter zu: „Erzähl den Deutschen, was für tolle Menschen du in Idomeni getroffen hast. Habt keine Angst vor Flüchtlingen!“ Hundertausende sind im vergangenen Jahr durch das Nadelöhr Idomeni gezogen, kein Vorfall wurde der Polizei gemeldet.Die Beamten suchen alles durch, auch Windeln
Die Grenzschützer auf der anderen Seite legen immer schärfere Kriterien an. Afghanen haben keine Chance mehr, Menschen aus Damaskus kommen nicht durch, wer als Grund angibt, seine Familie sei in Deutschland, auch nicht. Wer einen türkischen Stempel im Pass hat, ebenfalls nicht. Die Menschen zeigen nun ihre Identitätskarten, die Beamten suchen aber alles durch, bis in die Windeln der Babys, gehen auch in die Handys. Unentwegt bringen mazedonische Hubschrauber Verstärkung, so als stünde der Angriff einer Terrororganisation bevor. Männer, die offen gestreikt hatten für die Öffnung der Grenze, werden nach legalem Grenzübertritt im Beisein von Augenzeugen direkt am Grenzzaun geprügelt und malträtiert. Schäferhunde werden auf Menschen gehetzt. Deswegen ist eine unabhängige Beobachtung zur Einhaltung der Menschenrechte am Grenzübergang Idomeni zwingend notwendig. Am vergangenen Samstag kamen endlich 60 Menschen durch, heute, am Sonntag, waren es wohl 300 – tropfenweise. Besonders streng sollen die tschechischen Beamten sein. „Ganz Europa ist darauf ausgerichtet, Flüchtlinge abzuwehren. Wovor fürchtet man sich?“, fragen viele. In Griechenland sind bereits mehr als 32000 Menschen gelandet, in einem krisengeschüttelten Staat mit heruntergefahrenem Sozialaushalt, Krankenhäusern, denen Medikamente und andere Hilfsmittel fehlen, mit Schulkindern, die ohne Frühstück in die Schule gehen. Und täglich kommen mehr Flüchtlinge über das Meer. Das kollektive griechische Gedächtnis ist geprägt von Geschichten über Flucht, Kriege, Besatzungen, Auswanderungen, Diktaturen und Hungersnöten im vergangenen Jahrhundert. Und jetzt steht man in der Wirtschaftskrise wieder auf der Seite der Verlierer. Vielleicht ist da der Weg zu den Flüchtlingen nicht weit, man fühlt sich ihnen verbunden. Man hat selbst nicht viel zu verlieren. In Idomeni halten Freiwillige zu einem entscheidenden Anteil die Versorgung aufrecht, Die großen NGOs kommen mir wie gelähmt vor. Der Staat ist in Idomeni abwesend. Täglich werden weit über 10000 Portionen warmes Essen von zwei Freiwilligenküchen zubereitet und verteilt, Flüchtlinge helfen bereitwillig mit, putzen Gemüse, organisieren die Verteilung. Andere Gruppen kochen in ihrem Ort, viele Familien in ihren Häusern, und bringen das Essen dann herbei. Allein an diesem Tag waren es über 30 Lastwagen, die Obst, Sandwiches und Wasserflaschen, Kleidung und Utensilien herbeischafften. Täglich fahren Freiwilligengenorganisationen und spontane Helfer aus Thessaloniki die 75 Kilometer mit dem Auto nach Idomeni, um zu helfen.Dass es so nicht weitergehen kann, empfinden alle, die Situation hält niemand aus. Krankheiten, Erkältungen, Verzweiflung und Wut liegen in der Luft. Und die Freiwilligen, die sich nun schon seit Monten einsetzen, sind oftmals am Ende ihrer Kraft und bedrückt durch das Wissen, den Anforderungen nicht gerecht zu werden. Griechenland ist ein Lehrstück von Solidarität, die Bevölkerung hat hier bisher die neofaschistischen Kräfte einfach an den Rand gedrängt. In Diavata hatten einige anfangs vehement gegen die Einrichtung eines Aufnahmelagers gestreikt, aber als dann die Familien mit den Kindern eintrafen, wurden sie mit offenen Armen empfangen. Rassistische Kampagnen sind wieder abgeflaut. Auch in Diavata wird vieles von Menschen aus dem Umfeld besorgt und gebracht. Das Ausmaß an Eigeninitiative und Selbstorganisation ist in einem Land wie Griechenland für Kenner nicht unbedingt überraschend. Hier hat es nie einen Sozialstaat gegeben. Nachbarschaften, Familienverbände, Kirchengemeinden, auch Ortsvereine sind die tragenden Kräfte in der sozialen Fürsorge. Und allen voran die Frauen. Weg von Profitstreben, hin zu mehr Gerechtigkeit
In den Bewegungen der vergangenen Monate haben Menschen aus unterschiedlichen Lagern ganz praktische Schritte zu einer besseren und humanitären Gesellschaft unternommen und gezeigt, dass gesellschaftlicher Wandel – weg von neoliberalem Profitstreben, hin zu mehr Gerechtigkeit und Gemeinwohl – durchaus möglich ist. Flüchtlinge und Freiwillige haben ein gemeinsames Ziel: ein neues Europa.Aus Deutschland erfahren wir für unsere Naomi-Werkstatt bereits Hilfen: Die Solidaritätsküche wird durch Privatspenden über das Diakonische Werk Württemberg unterstützt, die Gesellschaft „Ökologische Bewegung“ mit ihren täglichen Hilfssendungen an Kleidung und Nahrung nach Idomeni und der Organisation dieser Küche ist in Kontakt mit der Diakonie Katastrophenhilfe. In Idomeni wird es Abend, überall leuchten kleine Feuer auf, Rauch brennt in den Augen, denn Abfall und Plastik liegen in der Glut. Der goldene Schein der Feuerstellen jedoch kann uns allen das Wissen nicht nehmen, dass wir Zeugen einer Katastrophe sind.[lt]
Dorothee Vakalis, Pfarrerin im Ruhestand, ist Leiterin der Ökumenischen Werkstatt mit Flüchtlingen „Naomi“ in Thessaloniki.Kontakt: naomi.thess@gmail.com
Naomi-Werkstatt für Flüchtlinge