Artikel teilen:

Das große Schweigen – wie Männer mit Genitalverletzungen umgehen

Der Penis ist Symbol für Männlichkeit, Potenz und Sexualität. Was aber, wenn er wegen einer Krebserkrankung amputiert werden muss? Oder ein Mann impotent ist? Forscherin Raboldt über Scham und fragile Männlichkeitsbilder.

Im Ersten Weltkrieg töteten Soldaten manche Kameraden aus Mitleid, wenn deren Genitalien im Kampf verstümmelt worden waren; in Afghanistan sollen US-Soldaten ebenfalls untereinander einen Pakt geschlossen haben, den anderen bei einer Verletzung der Geschlechtsteile sterben zu lassen. Ein Leben ohne Penis war für die Männer unvorstellbar.

Doch nicht nur im Krieg, auch im zivilen Leben müssen Männer mit Verletzungen fertig werden: Da gibt es Peniskarzinome, Hodenkrebs, Penisbrüche oder Erektionslosigkeit. Allerdings: Keiner spricht darüber – das ist die Erfahrung von Myriam Raboldt, Wissenschaftlerin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universität Berlin. Sie forschte zu Genitalverletzungen bei Männern und sagt: “Was mir entgegen geschwungen ist, sind Schweigen und Forschungslücken.”

Ihre jüngst veröffentlichte Dissertation trägt nicht umsonst den Titel “Schweigen, Scham und Männlichkeit”. “Während es für Frauen mit Brustkrebs Selbsthilfegruppen und Spendenläufe gibt, gibt es bei Männern nichts – keine offizielle Anlaufstelle, keine selbst organisierten Gruppen”, berichtet die Wissenschaftlerin. Ihr “Feld”, ihr Forschungsgegenstand, waren deshalb Einzelpersonen – insgesamt sechs – die die Forscherin mit zum Teil großem Aufwand und viel Geduld als Gesprächspartner gewinnen konnte.

Da ist zum Beispiel Alberto, der mit Anfang 50 an Peniskrebs erkrankte – eine seltene Erkrankung. Für ihn ist das so beschämend, dass er die Tumorentwicklung an seinem Penis zunächst ignoriert. Mit seiner Partnerin hat er demnach nicht das Gespräch gesucht, sondern sich stattdessen von ihr distanziert. Als sein Genital zu bluten beginnt, legt er sich selbst einen Verband an. Schließlich bleibt ihm nur, doch zum Arzt zu gehen, der erkennt, dass das Geschlechtsteil sofort amputiert werden muss.

“Wenn ich früher reagiert hätte, hätte ich vielleicht die Komplettamputation verhindern können”, zitiert ihn Raboldt. Inzwischen wisse zwar die Partnerin von der Amputation, sonst aber keiner – weder die Kinder, noch Freunde. Nur zwei Frauen mit Brustkrebs, die Alberto in einer Reha-Klinik kennenlernte, erzählte er davon.

Laut Raboldt zog sich die Tendenz, ein schwerwiegendes medizinisches Problem an Penis oder Hoden nicht wahrhaben zu wollen, auch durch andere Interviews. Sie stieß bei ihren Gesprächspartnern zudem auf Hilflosigkeit und “große Einsamkeit”. Zudem fehlten den Betroffenen Ansprechpartner. “Die Angst vor Beschämung tauchte immer wieder auf”, so die Forscherin.

Am besten konnte sich beispielsweise Patrick, der einen Penisbruch erlitten hatte, mit trans Menschen über die Verletzung unterhalten. Bei ihnen gebe es ein anderes Denken darüber, wie Körper existieren könnten. Auch mit Frauen habe er besser darüber reden können als mit cis Männern, also mit Männern, deren Geschlechtsidentität auch dem Geschlecht entspricht, das ihnen seit Geburt zugewiesen ist. Mit ihnen seien die Gesprächssituationen sehr unangenehm gewesen, berichtet der Enddreißiger. “Wir haben ja auch ‘n Todestabu”, zitiert ihn Raboldt.

Die Wissenschaftlerin reizte genau das: “Der trans Körper ist schon viel beforscht. Aber auch beim cismännlichen Körper finden Brüche und Wiederherstellungen statt. Weil er jedoch als Norm gilt, gibt es blinde Flecken: Der männliche Körper wird nicht als verletzlich wahrgenommen, er wird gar nicht erst problematisiert”, sagt Raboldt. Männer hätten einen sehr engen Raum, Männlichkeit zu leben. “Probleme mit dem eigenen Körper oder Schwäche kratzen direkt an der eigenen Existenz”, beschreibt sie. “In der US-Armee war zum Beispiel die Suizidrate unter den Kriegsverletzten bei denen am größten, die am Genital verletzt wurden.”

Sexualität leben, Potenz haben – und auch im Stehen urinieren können: Für Männer ist das laut Raboldt existenziell wichtig. “Es wäre schön, wenn es für die nächste Generation von Betroffenen von Genitalverletzungen nicht mehr so schwer ist, darüber zu sprechen”, sagt die Forscherin. Unsere Gesellschaft sei dominiert von männlichen Habitus und Logiken. “Da leiden Frauen drunter, aber auch Männer – von ihnen haben es aber die wenigsten bisher verstanden”, erklärt Raboldt. Sie sagt: “Da muss sich richtig was tun. Wir brauchen andere Vorstellungen von Männlichkeit. Sie sind zu fragil und brechen bei Verletzungen am Geschlecht sofort.”