Die Bestürzung ist groß: Die Briten verlassen die Europäische Union. Sollte das Schule machen, droht die Vision eines geeinten Europas zu scheitern und stattdessen ein Prozess in Gang gesetzt zu werden, an dessen Ende ein Rückfall in Klein- und Vielstaaterei stehen könnte.
Auch in England fragen sich ernüchtert jetzt nicht wenige: Was haben wir getan? Und tatsächlich scheint die Entscheidung an der Wahlurne ganz überwiegend aus dem Bauch heraus gefallen zu sein. Die Weltlage ist kompliziert. Unübersichtlich. Da erscheinen einfache Antworten verführerisch: Die da draußen. Die Fremden. Die in Brüssel. Die alle bedrohen uns.
Wie das manchmal so ist: Man fühlt die Wut im Bauch. Man lässt sie raus. Und wundert sich anschließend, was man alles kurz und klein geschlagen hat.
Natürlich gibt es gute Gründe, mit Europa unzufrieden zu sein – oder genauer: mit der aktuellen Gestalt, in der sich die Europäische Union präsentiert. Abgehobenheit, Herrschaft der Technokraten, schwere Demokratiedefizite: Das sind Vorwürfe, die seit Jahren gegen die EU erhoben werden. Und die dort offenbar zu keiner Einsicht geführt haben.
Bezeichnend dafür sind zwei Vorgänge, die sich in den letzten Tagen dort abgespielt haben. Erst kürzlich ließ die EU- Kommissarin Cecilia Malmström eine Bombe platzen: Wenn beim transatlantischen Handelsabkommen TTIP die Mitgliedsländer der Europäischen Union nicht mitziehen würden, könne die EU notfalls auch ohne deren Zustimmung das hoch umstrittene Projekt durchziehen. Mehr Arroganz – und das unmittelbar vor der Abstimmung in Großbritannien – geht nicht.
Genauso daneben die Reaktion der EU-Hauptakteure, allen voran die Präsidenten von Kommission und Parlament, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz. Die sollen vor Wut geschäumt haben, als das Abstimmungsergebnis der Briten bekannt wurde. Menschlich vielleicht verständlich. Aber: Von Einsicht oder Selbstkritik keine Spur.
Die EU steht am Scheideweg. Als Wirtschaftsunion war sie gestartet. Als Wertegemeinschaft wurde sie in Sonntagsreden beschworen. Tatsächlich erscheint sie den meisten Bürgerinnen und Bürgern wohl vor allem als Bürokratie-Medusa.
Nüchtern betrachtet aber gibt es zu einem geeinten Europa keine Alternative. Gerade jetzt, wo viele Staaten sich auf eigene Interessen zurückziehen, ist es überlebenswichtig, den Europa-Gedanken mit neuem Leben zu füllen. Populismus und Nationalismus sind auf dem Vormarsch; das hat schon wiederholt zu Tragödien geführt.
Europa muss als das erklärt und vermittelt werden, worin sein eigentlicher Wert liegt: als Friedensprojekt. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist wichtig. Sie kann die Grundlagen für das Zusammenleben absichern. Aber dabei darf man nicht stehen bleiben.
Europa als Wertegemeinschaft: Das zu klären, dafür könnte der Brexit der Warnschuss vor den Bug gewesen sein: Europa kann so nicht weitermachen; es muss noch einmal ganz neu gedacht werden.
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Das große Friedensprojekt
Zu einem geeinten Europa gibt es keine Alternative – zumindest, wenn sich seine Menschen nicht in die Gefahr begeben wollen, zum wiederholten Mal Tragödien auf den Weg zu bringen