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Das Ende des Gewohnten

Die aktuellen EKD-Kirchenmitgliedszahlen zeichnen ein dramatisches Bild

Mehr als 800000 Mitglieder verloren die evangelischen und die katholischen Kirchen im vergangenen Jahr. Das zeigen die Mitgliederstatistiken der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für 2019, die am vergangenen Freitag veröffentlicht wurden. Rund 270000 Menschen traten demnach 2019 aus der evangelischen Kirche aus. Das sind rund 22 Prozent mehr Menschen als im Vorjahr. Rund 340000 Kirchenmitglieder verstarben. Auch auf die Kirchensteuereinnahmen wird sich die Zahl der Kirchenmitglieder langfristig auswirken.

Von Hanna Jacobs

Vermutlich ist das der Anfang vom Ende. Mehr als eine halbe Millionen Menschen sind in Deutschland aus einer der beiden Großkirchen ausgetreten, mehr als je zuvor. 

Die Veröffentlichung der Austrittzahlen kommt jedes Jahr wie ein mittlerer Erdrutsch daher, ­deren Wucht man gern mit warmen Worten abzufedern versucht. Wie zuversichtlich man trotz allem sei, wie sehr die Menschen die Kirche, den Trost, den sie spendet, doch brauchen, gerade jetzt. Ich frage mich dann immer, wer eigentlich „die“ Menschen sind, von denen vor allem kirchenleitende Theologen oder Politikerinnen gerne ­sprechen. Sind es alle Menschen, die in diesem Land leben? Oder nur diejenigen, mit denen man sich nicht durch ein „Wir“ vergeschwistern möchte? 

„Die“ Menschen treten jedenfalls aus, aus katholischer wie evangelischer Kirche gleichermaßen. Und wer dem Impuls widersteht, nach einem schnellen Gegengift zu suchen, wird sich eingestehen ­müssen: Es wird nicht mehr, wie es schon lange nicht mehr ist.

Es ist der Anfang vom Ende der kirchlichen Strukturen, wie wir sie kennen. Je mehr wir uns dem ­stellen, desto mehr können wir ­gestalten. In Kommentaren oder Handreichungen heißt es gern, man wolle nicht „den Niedergang verwalten“ -, als sei jede Aktivität, die nicht darauf zielt, Wachstum hervorzurufen, ein Akt der Resignation. Dabei täten wir als Kirche gut daran, den Niedergang aktiv zu verwalten und somit Gestaltungs­möglichkeiten zu haben. Abschied nehmen von geschätzten Arbeitsbereichen und Gebäuden, den ­Anspruch, überall für alle verfügbar zu sein aufgeben. Auswählen, was unverzichtbar ist und das möglichst transparent kommunizieren. 

Es ist ein bisschen so, als zöge ­jemand, der lange in einem geräumigen Haus gelebt hat, in eine Zweizimmerwohnung – es kann nicht alles mit, aber auch da kann man sich wohnlich einrichten und Gäste empfangen. In einem Seel­sorgegespräch mit einem Senioren, der solch einen Umzug vor sich hat, würde eine Pfarrerin genau das ­sagen. Jetzt ist es daran, dass wir, denen die Kirche am Herzen liegt, uns das gegenseitig sagen. So könnte es aussehen, was nach Katastrophenzahlen oft schnell gefordert wird, nämlich nicht mutlos zu werden. Kleiner werden heißt nicht verschwinden. Denn ein Niedergang ist kein Untergang. 

Eine kleine, arme Kirche wird sich den Erhalt etlicher historischer Kirchbauten auf Dauer nicht leisten können, von manchen Arbeits­feldern und etlichen Stellen ganz zu schweigen. Aber beim Blick in die meisten Länder der Welt wird man sehen, dass ärmere und kleinere evangelische Kirchen durchaus ­präsent und engagiert sein können. 

Solche Strukturen sind auch hier nicht ohne Beispiel. Zu Beginn meines Vikariats traf es sich, dass ich einmal bei einem Pfarrehepaar in der Uckermark zu Gast war. Sie erzählten mir, wie sich Kirche damals in der DDR angefühlt hatte, wie Gemeindeschwestern mit dem Fahrrad übers Land fuhren und wie besonders die Gemeinschaft gewesen sei. Das hatte mich, die ich volkskirchlich-westdeutsch sozialisiert wurde, tief beeindruckt. Möglicherweise kann der Blick zurück und über den kirchensteuerfinanzierten Tellerrand uns zeigen, wie das gehen kann: mit weniger Ressourcen, gesellschaftlichem Rückhalt leidenschaftlich und solidarisch Kirche sein. Damit auf das Ende des Gewohnten ein neuer ­Anfang folgen kann. 

Hanna Jacobs ist Pastorin im „raumschiff.ruhr“, einem ­Gemeindepionierprojekt in Essen, und Kolumnistin bei der Wochen­zeitung „Die Zeit“.

Die Kirchenmitgliederzahlen zum 31. Dezember 2019 sind abrufbar unter https://www.ekd.de/ekd-statistik-22114.htm