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Bundespräsident trifft im Kibbuz auf eine verwundete Gesellschaft

Mit seiner Unterstützung will Bundespräsident Steinmeier Be’eri zu einer neuen Zukunft verhelfen. Doch in dem Kibbuz lebt man im Jetzt. Ohne Rückkehr aller Hamas-Geiseln, keine Zukunft, sagen sie dort.

Be’eri war schon kurz nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 das Ziel von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Knapp anderthalb Jahre später besuchte er am Mittwoch den israelischen Kibbuz an der Grenze zum Gazastreifen erneut. Die Wunden des Angriffs sind noch nicht geheilt. Und der Krieg, den er auslöste, geht in Tag 586. Vor allem aber sind weiterhin 58 Geiseln, davon wohl viele schon tot, in den Händen Hamas in Gaza, darunter sechs aus Be’eri. Ohne ihre Rückkehr, sagen die Mitglieder des Kibbuz, ist kein Gedanke an Zukunft denkbar.

Sein erneuter Besuch sei “ein erster Schritt hin zur Erfüllung” seines Versprechens, am Wiederaufbau mitzuhelfen, sagte er bei der Vorstellung des Architekturentwurfs für die neue Kunstgalerie Be’eris. Am Stamm eines am 7. Oktober zerstörten Baumes auf dem Gelände der niedergebrannten alten Galerie legte Steinmeier zusammen mit seinem israelischen Amtskollegen Isaac Herzog Kränze im Gedenken an die Opfer nieder. Dann pflanzten sie einen Baum.

Zwischen dem Horror des 7. Oktober, dem Wiederaufbau und der Hoffnung auf eine friedliche Zukunft für den Kibbuz und die Region bewegt sich der doppelte Präsidialbesuch. Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender lobten den Mut der Menschen, bewunderten ihre Widerstandskraft und den Willen zum Wiederaufbau, machten sie zu Helden und Rollenvorbildern.

In der Tat sei schon am 9. Oktober 2023 klar gewesen: “Wir kommen wieder und bauen wieder auf”, sagte Kibbuzdirektor Gal Cohen. Der Wiederaufbau der Galerie sei Teil dieser Vision, Zeichen des ungebrochenen Geistes Be’eris und wichtiges Element im Heilungsprozess. Dem Dank an Steinmeier und Deutschland für die Unterstützung “nicht nur in Worten, sondern in Taten”, folgte die Einladung, den Kibbuz erneut zu besuchen, wenn er wieder “voll im Leben” stehe.

Genau das ist der Knackpunkt, sagen andere Stimmen in der am 7. Oktober hart getroffenen Gemeinschaft. “Wir leben im Jetzt”, sagt Sharon Cohen. Die 45-Jährige gehört zu den Überlebenden des Hamas-Massakers. Keiner der Menschen von Be’eri oder den Gemeinschaften entlang der Gazagrenze mache Pläne über ein paar Tage hinaus. “Erst müssen alle Geiseln zurückkommen und wir ein sicheres, ruhiges Leben zurückgewinnen. Dann können wir anfangen, über Perspektiven nachzudenken und zu reden”, sagt auch Yuval Haron. Der 38-jährige Deutsch-Israeli hat am 7. Oktober 2023 seinen Vater verloren, brutal ermordet von den Schergen der Hamas. Sieben Familienmitglieder wurden nach Gaza entführt. Der letzte von ihnen wurde im Februar im Rahmen des Geiselabkommens freigelassen.

586 Tage Krieg und noch immer Geiseln in Gaza: Für Haron ist dies ein eindeutiger Hinweis, dass “die Regierung, die Welt nicht genug tut”. Er hätte sich gewünscht, in eine andere, bessere Situation nach Be’eri zurückzukehren, sagte Steinmeier bei der Feier rund um die alte-neue Kunstgalerie. Doch noch immer herrsche Krieg, seien Geiseln in Gefangenschaft und litten auch in Gaza unschuldige Menschen und stürben Kinder. Ein Leiden, dass auch Sharon Cohen und Yuval Haron nicht wollten. Ob sie sich je wieder eine Koexistenz mit den Palästinensern vorstellen können, sei jedoch eine Frage, die sie ehrlicherweise nicht, vielleicht noch nicht, beantworten könnten.

Überzeugter zeigte sich Präsident Herzog. Er hoffe, nein, sei fest überzeugt, dass “wir nach der schrecklichen Zeit, durch die wir gehen, Frieden mit unseren Nachbarn sehen werden”, sagte er auf Englisch. Und in der hebräischen Version fügte er hinzu: Frieden zwischen uns und mit unseren Nachbarn. Dafür sei die Galerie Hoffnungszeichen.

Die neue Kunstgalerie wolle bestehende Gebäude integrieren, lasse sich von der Geschichte des Ortes inspirieren, um in die Zukunft zu weisen, heißt es bei der Vorstellung des Entwurfs. Eine Architektur, “die nicht mit dem Ort in Wettbewerb tritt, sondern ihn erweitert und verbessert”, sagt Architekt Daniel Zarhy.

Abreißen oder bewahren: Das sei eine der großen Fragen, an denen sich die Geister im Kibbuz schieden. Manchen wollten erst wiederkommen, wenn alle Spuren des Horrors beseitigt seien, sagt Sharon Cohen. Anderen sei es wichtig, auch den schwärzesten Tag Be’eris zu dokumentieren. Am Ende werde der Kibbuz in einer demokratischen Abstimmung entscheiden, ob und wieviel von den Spuren des 7. Oktobers erhalten bleibe.

Die Leiterin der Kunstgalerie, Sofie Berzon Mackie, hat sich persönlich längst entschieden. “Wir müssen vorwärts gehen, wir müssen vergessen und heilen”, sagt sie. Das alles könne nicht geschehen, solange man “so nah an so viel Mord” lebe. Der Entwurf der neuen Galerie reflektiere eben dies. Was am 7. Oktober geschehen sei, habe die Menschheit erschüttert. “Menschheit und Kunst, Kunst und Leben sind für mich eins”, sagt die 41-Jährige. Leben und Kunst in Be’eri wieder zurück in die Welt zu bringen: Das sei ihre Lebensaufgabe.