Ein neues Buch dokumentiert erstmals alle zugänglichen Reden, die Zeitzeugen bei den Gedenkfeiern zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz hielten. Der Band „Das Vermächtnis. Reden von Überlebenden in Auschwitz“ weise allerdings Lücken auf, sagte der Mitherausgeber und Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen, Sascha Feuchert, dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Es gab leider tatsächlich eine ganze Reihe von Jahrestagen, bei denen die Reden nicht mehr zu beschaffen, beziehungsweise zu finden waren.“ Seit 1995 wird der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers mit einer großen Gedenkfeier am 27. Januar in Auschwitz begangen.
Erinnerungskultur immunisiert gegen Rechtsruck
In dem Band seien alle Reden versammelt, die die Doktorandin und Mitarbeiterin der Arbeitsstelle, Aleksandra Bak-Zawalski, in eineinhalb Jahren „intensivster Suche“ ermitteln konnte. Dass die Reden bisher nicht dokumentiert wurden, sei „ein Symptom unserer Sorglosigkeit“, sagte Feuchert: „Zum einen haben wir alle offenbar zu lange geglaubt, die Erinnerungskultur funktioniere und immunisiere uns gegen einen neuerlichen Rechtsruck.“ Da sei es offenbar nicht darauf angekommen, solche Reden zu archivieren. Es habe ja auch noch viele Zeitzeugen gegeben. Außerdem habe man wohl etwas „naiv“ an die Archivfunktion des Internets geglaubt, dass in den virtuellen Zeiten nichts mehr verloren gehe.
Auschwitz-Reden sind “ein Vermächtnis an die Welt”
Die Reden stellten tatsächlich „ein Vermächtnis an die Welt“ dar, betonte der Literaturwissenschaftler. Für die meisten Überlebenden sei es eine hochemotionale Sache gewesen, am Ort ihres größten Leids aufzutreten. „Für viele ist es ein Triumph, dort stehen zu können und zu reden. Für andere war das auch eine äußerst beängstigende Situation, zurückzukehren und zu reden.“
In ihrer Rede berichtete beispielsweise die Überlebende Zdzislawa Wlodarerczyk: „Die Nächte waren am schlimmsten … Kinder weinten im Schlaf, riefen nach ihrer Mutter, wimmerten und stöhnten, aber mit der Zeit verstummten diese Geräusche, denn sie wussten, dass niemand kommen und ihnen die Hand auf den Kopf legen, sie streicheln und umarmen würde. Sie starben in Einsamkeit. Warum?“ In dem Buch sind unter anderem auch die Rede des Schriftstellers Elie Wiesel zum 50. Jahrestag der Befreiung oder die der Musikerin Anita Lasker-Wallfisch zum 76. Jahrestag dokumentiert.
Zweite Buch-Auflage bereits in Arbeit
Der dreisprachige Band (polnisch/deutsch/englisch) ist zum 80. Jahrestag der Befreiung in diesem Jahr erschienen. Nach Angaben von Feuchert laufen bereits die Arbeiten an einer zweiten Auflage. Sie werde auch die Reden enthalten, die im Januar 2025 gehalten wurden. Erscheinungstermin ist voraussichtlich 2026.