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Brahms’ Wiegenlied: Darf man es Kindern zumuten?

Was kann man Kindern zumuten? Die Vorstellung, dass Gott jederzeit ein Leben beenden kann? Das jedenfalls singen Eltern seit Generationen ihren Kindern vor dem Einschlafen vor.

Mit einem Gute-Nacht-Lied schlafen viele Babys entspannt ein.
Mit einem Gute-Nacht-Lied schlafen viele Babys entspannt ein.TSEW / elements.envato.com by Anikona

Überm Babybett hängt die Spieluhr. Eingenäht in einen Mond, einen Stern; vielleicht auch in ein Spielzeug-Häschen. Sie gibt diese sanften, fast zauberhaften Klänge von sich: Guten Abend, gute Nacht… Brahms Wiegenlied. Generationen von Kindern sind zu dieser Melodie eingeschlafen. Selige Erinnerungen hängen daran.

Doch nicht bei allen. Denn groß kann der Schreck sein, wenn der Text des Liedes dazukommt. „Mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt“ – das kann man noch erklären: Rosen mit ihren Dornen sollen nicht stechen, sondern ein schützendes Dach bilden. Näglein sind keine Nägel, sondern „Nelk-lein“, Gewürznelken, die Ungeziefer fernhalten. Aber: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“? Es gibt Menschen, die noch als Erwachsene die Angst spüren: Was, wenn Gott mich nicht wecken will? Oder er es schlicht vergisst? Kein Wunder, dass manche Eltern sagen: Dieses Lied kommt mir nicht ins Kinderzimmer.

Religiöse Demutsformel

Die Textstelle taucht übrigens so ähnlich in der Bibel auf. Man nennt sie in Anlehnung an Jakobus 4,15 den jakobinischen Vorbehalt: So Gott will und wir leben. Auch andere Religionen kennen diese Demutsformel („Inschallah“). Dahinter steht die Erfahrung: Das Leben ruht letztlich nicht in der eigenen Hand. Ob man Gott dafür verantwortlich macht, Geister, den Zufall oder das Schicksal – von jetzt auf gleich kann alles vorbei sein. Oder eben von heute Abend auf: morgen früh.

Für die, die an einen schützenden, sorgenden Gott glauben, kann das eine Zumutung sein. Warum lässt der liebe Gott zu, dass mein Baby morgen früh vielleicht nicht wieder aufwacht? Als Brahms Wiegenlied entstand, im 19. Jahrhundert, wussten die Menschen genau, was sie da sangen; die Kindersterblichkeit war hoch.

Bitte um Bewahrung

Das rührt an das vielleicht größte Geheimnis des Glaubens: Warum gibt Gott Raum für Leid und Tod? Warum dürfen menschenverachtende Diktatoren und mordende Scheusale leben, während unsere Liebsten und Besten unters Auto geraten, Krebs bekommen, die Treppe hinunterstürzen? Niemand hat darauf je eine überzeugende Antwort geben können.

Es bleiben: Demut. Ergebenheit. Hoffnung. Und die Bitte um Bewahrung vor Übel und Leid. So verstanden hat das Wiegenlied von Brahms vielleicht doch seinen Platz. Denn auch das ist möglich: So, wie der Liedtext manche in Angst und Schrecken stürzt, berichten andere, dass dieses Lied sie mit Ruhe und Frieden erfüllt. Was auch passiert, ob ich aufwache oder nicht, ich bin geborgen – in Gottes Hand. Nicht in meiner eigenen.

Ob man das Lied dann seinen Kindern vorsingen will oder nur die Spieluhr die wunderschöne Melodie spielen lässt – das muss am Ende jede und jeder selbst entscheiden.