Die Weihnachtsschützen im Berchtesgadener Land sind eine Besonderheit. Sie schießen zur Ankunft des Christkindes – eng abgestimmt mit der Liturgie in der katholischen Kirche. Der Brauch ist Hunderte Jahre alt und seit 2018 sogar immaterielles Kulturerbe in Bayern. Während der NS-Zeit spielten die Weihnachtsschützen eine besondere Rolle. Warum Adolf Hitler Ehrenmitglied bei den Weihnachtsschützen wurde, sich die Weihnachtsschützen aber dennoch nichts vom NS-Regime vorschreiben lassen wollten und sogar in Verstecken schossen, erzählt Mathias Irlinger im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Irlinger ist Bildungsreferent beim Institut für Zeitgeschichte in der Dokumentation Obersalzberg.
epd: Adolf Hitler war Ehrenmitglied der Berchtesgadener Weihnachtsschützen. Wie kam es dazu?
Irlinger: Die Vereinigten Weihnachtsschützen – also der Dachverband der einzelnen Vereine – hatten Hitler bereits am 26. März 1933 zum Ehrenmitglied ernannt. Also nur wenige Tage nach der Reichstagswahl vom 5. März und nur wenige Wochen nach der sogenannten „Machtergreifung“ Hitlers. Zu der Zeit sind Tausende Menschen in die NSDAP eingetreten, aus Opportunismus oder anderen Gründen. In dieser Phase haben auch zahlreiche Städte Hitler zum Ehrenbürger gemacht oder haben Straßen und Plätze nach ihm benannt. Warum ausgerechnet die Weihnachtsschützen auf diesen „Zug“ aufgesprungen sind, kann ich mangels Quellen nicht eindeutig sagen. Ehrenmitglieder wurden und werden von der Vorstandschaft vorgeschlagen. Nach allem, was ich weiß, war vor allem der damalige Vorsitzende der Vereinigten Weihnachtsschützen, Franz Reichlmeier, die treibende Kraft.
epd: Könnte die Nähe zum Obersalzberg eine Rolle spielen, wo Hitler ja auch gewohnt und später einen zweiten Regierungssitz aufgebaut hat?
Irlinger: Vermutlich spielte auch Hitlers Wohnort am Obersalzberg ebenso eine Rolle wie die Hoffnung auf Einfluss. Nahezu ausgeschlossen werden kann jedenfalls, dass Hitler von sich aus eine besondere Nähe zu den Weihnachtsschützen hatte.
epd: Warum nicht?
Irlinger: Hitler war kein Weihnachtsschütze, er hat den Brauch nie ausgeübt. Anfragen für eine Ehrenmitgliedschaft hat er eigentlich immer abgelehnt. Es war schon eine Besonderheit, dass er bei den Weihnachtsschützen zugesagt hat. Im Herbst 1934 gab es sogar einen Artikel im „Völkischen Beobachter“, der die Weihnachtsschützen als einzigen Verein aufführte, dem der „Führer“ als Mitglied angehört. Dass er zugesagt hat, liegt wohl daran, dass Hitler sich als bodenständiger, natur- und heimatverbundener Mensch inszenieren wollte – was er ja alles nicht war. Bei den Weihnachtsschützen erhoffte er sich offenbar ein entsprechendes Image.
epd: Haben die Weihnachtsschützen denn nun von Hitlers Ehrenmitgliedschaft profitiert?
Irlinger: Ein Stück weit schon. NS-Funktionäre konnten ja nicht offen gegen eine Vereinigung vorgehen, in der Hitler selbst Mitglied war. Zudem war es bei den Weihnachtsschützen ähnlich wie bei den großen Kirchen. Ein offenes Vorgehen der Nazis hätte auf alle Fälle zu Unruhe in der Bevölkerung geführt, was das NS-Regime insbesondere in der Kriegszeit vermeiden wollte.
epd: Später sollen sich die Weihnachtsschützen gegen die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten gewehrt haben. Wie passt das mit der Ehrenmitgliedschaft Hitlers zusammen?
Irlinger: Der Berchtesgadener Volkskundler und Professor Rudolf Kriss (1903-1973) vertrat schon während des Zweiten Weltkriegs die Ansicht, dass es Taktik gewesen sei, Hitler zum Ehrenmitglied zu ernennen. Die Weihnachtsschützen hätten sich auf diese Weise vor einer Vereinnahmung schützen wollen. Diese Weitsicht traue ich den Weihnachtsschützen nicht zu. Ich glaube eher, dass sie dem NS-Regime anfangs keineswegs ablehnend gegenüberstanden. Das NS-Regime bemühte sich ja gerade in der Anfangsphase um das bürgerlich-konservative Milieu und schob den „Kirchenkampf“ erstmal auf. Solange traditionelles Brauchtum und NS-Ideologie koexistieren konnten, gab es keine Probleme.
epd: Wann kamen die Probleme?
Irlinger: Erst als die christlichen Grundlagen des Brauchtums mit dem NS-Regime aneckten. Die Weihnachtsschützen wirken ja traditionell auch an kirchlichen Prozessionen mit, zum Beispiel an Fronleichnam. Die Nazis haben da bewusst gestichelt und Steine in den Weg gelegt: Die Prozessionen wurden – formal aufgrund des Verkehrs – auf Nebenrouten abgeschoben, und die Weihnachtsschützen sollten bei den Prozessionen nicht mehr schießen. Dagegen wehrten sich die Weihnachtsschützen und schossen weiterhin zu kirchlichen Anlässen, teilweise versteckt.
Gleichzeitig weigerten sich die Weihnachtsschützen, bei NSDAP-Parteiveranstaltungen zu schießen, weil dies so eben nicht der Brauch ist. Kein Problem hatten sie dafür, an Silvester vor Hitlers Berghof am Obersalzberg zu schießen. Das Salvenschießen bei hohen Staatsbesuchen – vor allem zu Zeiten der Wittelsbacher – hat eine lange Tradition.
epd: Die Nationalsozialisten haben bei christlichen Bräuchen gern den religiösen Charakter negiert und dafür heidnische Wurzeln betont…
Irlinger: Das haben die Nazis auch bei den Weihnachtsschützen versucht und – wie man Presseberichten entnehmen kann – aus einem christlichen Brauchtum einen altgermanischen Kult gemacht. Das hat teilweise Nachwirkungen bis heute. Feststellen lässt sich jedenfalls vor allem für die Zeit des Zweiten Weltkrieges: Sticheleien der lokalen NS-Funktionäre gegen die Weihnachtsschützen haben zugenommen, genauso wie auch der „Ungehorsam“ der Weihnachtsschützen gegen das NS-Regime.
epd: Den Weihnachtsschützen ging es also eher um den Schutz des eigenen Brauchtums als darum, den Nationalsozialismus an sich zu bekämpfen?
Irlinger: Ich denke schon. Im Wesentlichen haben die Weihnachtsschützen während der NS-Zeit das gemacht, was sie immer gemacht haben: zu bestimmten Anlässen – vor allem Weihnachten und kirchlichen Festen – mit ihren Böllern zu schießen. Erst als sie darin gestört wurden, gab es Widerstand. Aber nur gegen die „Störungen“ – nicht gegen das NS-Regime als Ganzes.
Einige dürften dadurch vielleicht auch das NS-Regime als Ganzes kritischer gesehen haben, andere haben die Sticheleien vielleicht eher einzelnen lokalen Funktionären zugeschoben, während sie an Hitler nie zweifelten. Ausnahmen waren sicherlich Einzelpersonen wie Rudolf Kriss, die dem NS-Regime von Beginn an kritisch gegenüberstanden.
epd: Sie haben jetzt ein paar Mal den Namen Rudolf Kriss genannt. Wer war denn dieser Mann genau?
Irlinger: Rudolf Kriss ist eine sehr spannende Person, weil er sich dem NS-Regime widersetzte und diesen Widerstand fast mit dem Leben bezahlt hätte. Auch er war Ehrenmitglied der Weihnachtsschützen. Aber von vorn: Er war Besitzer des Hofbrauhauses Berchtesgaden. Sein Interesse galt aber eher der Völkerkunde, vor allem der christlichen Volkskunst. Wenn man so will, war er also jemand, der einerseits eng in Berchtesgaden verwurzelt war, dessen Geist jedoch weit über den beengten Talkessel hinausstrebte. Kriss war wohl von Beginn an dem NS-Regime sehr kritisch gegenüber eingestellt. Auch seine Mutter fand die Nazis wohl eher abstoßend. Außerdem unterhielt er bereits als Jugendlicher und später auch als Professor Kontakte zu jüdischen Wissenschaftlern.
epd: Was hatte er mit den Weihnachtsschützen zu tun?
Irlinger: Rudolf Kriss war selbst Weihnachtsschütze und dem Brauch damit eng verbunden. 1935 wurde er Professor. Aber allein die Tatsache, dass er religiöser Volkskundler war, war den Nationalsozialisten schon ein Dorn im Auge. Hinzu kamen regimekritische Äußerungen, sodass er mit einem Lehrverbot belegt wurde. Während dieser Zeit begann er, zu den Weihnachtsschützen zu forschen, und veröffentlichte 1941 halb-legal sein Buch „Das Berchtesgadener Weihnachtsschießen und verwandte Bräuche“. Er betonte darin die Verbindung der Weihnachtsschützen mit der katholischen Kirche. Das kann als Abwehr gegen eine zu starke Vereinnahmung des Brauches durch das NS-Regime gesehen werden.
Ich würde ihn als „graue Eminenz“ hinter dem „Ungehorsam“ der Weihnachtsschützen beschreiben, was er auch fast mit dem Leben bezahlt hätte. 1944 wurde er von den Nazis zum Tode verurteilt, was später in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Nach dem Krieg wurde er für seinen Widerstand gewürdigt – und zum Ehrenvorsitzenden der Vereinigten Weihnachtsschützen des Berchtesgadener Landes ernannt. Und er wurde der erste Nachkriegsbürgermeister von Berchtesgaden. (00/3883/16.12.2024)