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Bischöfin Hofmann: Kirche für Viele nichts Selbstverständliches mehr

Beate Hofmann, Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, dringt angesichts des Mitgliederrückgangs auf ein neues kirchliches Selbstverständnis. „Wir sind nicht mehr die Kirche der Mehrheit des Volkes oder ein selbstverständlicher Teil des Lebens vieler Menschen in diesem Land“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd) und fügte hinzu: „Wir haben nach wie vor eine öffentliche Rolle. Aber sie ist nicht mehr selbstverständlich.“

epd: Frau Bischöfin Hofmann, Sie sprachen auf der Synode ihrer kurhessischen Landeskirche im November von einer „Volkskirche im Übergang zu etwas Neuem“. Wie wird Kirche zukunftsfähig?

Beate Hofmann: Indem sie sich der Wirklichkeit stellt. Entscheidend für uns ist, sich ehrlich zu machen und zu realisieren, wie sich die Rahmenbedingungen verändern werden. Das Geld, die Menschen, die Mitarbeitenden werden weniger. Das bedeutet, wir müssen Gebäude loslassen, weil wir nicht mehr alle erhalten können und auch nicht mehr alle brauchen. Wir müssen Kirche mit weniger Hauptamtlichen denken und uns ganz anders um ehrenamtliches Engagement bemühen, dafür werben und dazu einladen, Bedingungen dafür schaffen. Wir müssen unsere Bilder von bestimmten Berufen in der Kirche verändern. Wir verändern die Art, wie Verwaltung arbeitet. Wir schreiben eine neue Verfassung. Wir überprüfen alle Strukturen.

epd: 2021/2022 hat es in Kurhessen einen Verständigungsprozess zum Auftrag der Kirche gegeben, an dem sich viele Menschen beteiligt haben. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Hofmann: Immer wieder wurden die gleichen Schwerpunkte genannt, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Für die einen ist es wichtig, Räume für Religion zu öffnen und über den Glauben zu sprechen, für die anderen ist es die Lebenshilfe und die anwaltschaftliche Rolle in Kirche und Gesellschaft, für die dritten sind es Gemeinschaftserfahrungen und Lebensbegleitung. Dies kann sich auch biografisch verschieben. Wir sind herausgefordert, im Blick zu behalten, dass wir für unterschiedliche Menschen Unterschiedliches sind, und das zu bewahren, auch wenn wir kleiner werden.

epd: Sie haben dazu aufgefordert, dass Kirche lernen müsse, „minderheitlich“ zu werden und betont, dass es nicht überall das gleiche kirchliche Leben geben wird. Was heißt das konkret?

Hofmann: Als ich 2019 nach Kassel kam, traf ich auf einen Reformprozess, der bereits seit vier Jahren lief. Sein Leitmotiv lautete „Volkskirche qualitativ weiterentwickeln“. Das beinhaltet die Vorstellung von: „Es geht immer so weiter.“ Und ich erlebe, dass bei vielen Menschen die Überzeugung „Wir sind Volkskirche“ sehr stark verankert ist. Ich denke, wir müssen das differenzieren: Es gibt Aspekte von Volkskirche, die ich für ganz wichtig halte. Zum Beispiel genau diese Pluralitätsfähigkeit, die in der Volkskirche drinsteckt, also unterschiedliche Bindungsformen zu akzeptieren.

Aber es gibt auch Aspekte, wo man sagen muss: Davon müssen wir uns verabschieden. Wir sind nicht mehr die Kirche der Mehrheit des Volkes oder ein selbstverständlicher Teil des Lebens vieler Menschen in diesem Land. Wir haben nach wie vor eine öffentliche Rolle. Aber sie ist nicht mehr selbstverständlich. Sie muss an manchen Stellen erarbeitet, manchmal auch erstritten werden. Und es hängt davon ab, wie wir diese Rolle wahrnehmen, ob wir darin glaubwürdig sind und einen überzeugenden Beitrag leisten.

Minderheitlich werden heißt: Stellt euch darauf ein, wir sind das Salz in der Suppe, aber nicht mehr der Hauptbestandteil. Es braucht andere Bilder.

epd: Sie sagen, es braucht andere Bilder: Sollte man sich dann aufgrund dieses Missverständnisses, was Sie gerade anschaulich beschrieben haben, von dem Begriff Volkskirche verabschieden?

Hofmann: Deshalb spreche ich von einer „Volkskirche im Übergang zu etwas Neuem“. Ich finde es im Moment schwierig, das eine treffende Bild zu finden. Deshalb habe ich geschaut, wie andere Kirchen, die eher Kirchen in einer Minderheitssituation sind, sich beschreiben. Da spielt der Begriff der Diaspora eine große Rolle. Ich bin selbst in der evangelischen Diaspora in Oberbayern aufgewachsen. Ich weiß, dass das nicht unbedingt bedeutet, dass man nur noch der kleine verlorene Haufen ist, sondern dass man auch als minderheitliche Kirche, als kleinere Gruppe sichtbar und hörbar sein und wichtige Impulse geben kann.

Aber den einen neuen Begriff, den haben wir noch nicht. Und deswegen finde ich es auch nicht so einfach, den Begriff Volkskirche jetzt ad acta zu legen, weil dann vielleicht bei vielen die Idee aufkommt, wir werden so etwas wie eine Freikirche und eine klare Bekenntnisgemeinschaft: Alle sind dort hochverbunden und engagiert, und die anderen lassen wir hinter uns. Den Weg möchte ich nicht gehen.

Klar ist: Die Säkularisierung können wir nicht aufhalten. Vielmehr braucht es einen Spagat: Kirchesein mit denen zu leben, die sich uns verbunden fühlen, und gleichzeitig müssen wir uns um die bemühen, die über Austritt nachdenken oder ausgetreten sind.

epd: Mit welchen Konzepten hat Kirche denn aktuell Erfolg?

Hofmann: Wir erleben Segensreiches mit Segen. Überall dort, wo wir Gelegenheiten schaffen, dass Menschen mit dem Segen Gottes in Kontakt kommen, machen wir sehr berührende Erfahrungen und spüren, dass es einen Hunger nach solchen Erfahrungen gibt. Die Landesgartenschau 2023 in Fulda war dafür ein eindrückliches Beispiel. Wir erleben zudem die Auferstehung der Kirchenmusik nach der Corona-Pandemie; viele Chöre haben einen großen Zulauf. Und ich bin überzeugt, dass wir im Bereich der Konfirmandenarbeit und in den Schulen eine gute und sehr wichtige Arbeit machen.

epd: Welche Formen von Kirchesein braucht es, um Menschen in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft anzusprechen, in der Religion keine große Rolle mehr spielt?

Hofmann: Die Herausforderung ist, dass wir eine sehr vielfältige Gesellschaft haben, mit sehr unterschiedlichen Lebensstilen. Letztendlich muss man für jeden etwas finden, verschiedene Formate schaffen, unterschiedliche Geschichten erzählen. Auch wir werden vielfältiger und gleichzeitig weniger. Kirche in Vielfalt heißt für mich deshalb auch auszuhalten, dass wir nicht allen überall alles sein können. Wir müssen exemplarischer arbeiten und zentrale Kontaktflächen finden. Dabei spielen die Konfirmandenarbeit, die Kasualien und die Kirchenmusik, die Diakonie und die Zusammenarbeit mit ihr eine wichtige Rolle.

Es geht auch um Kommunikation. Zu Beginn der Corona-Pandemie war die Frage, ob die Kirche jetzt ins Digitale geht. Inzwischen ist klar, dass das Digitale eine Ergänzung, aber kein Ersatz ist. Die Stärke der Kirche liegt in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Die Pandemie hat uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, mit Menschen in Kontakt zu sein, sich gegenüberzusitzen, sich zu spüren und Reaktionen wahrzunehmen. Gleichzeitig erleben wir, dass im digitalen Bereich Kommunikationschancen liegen. Die Chat-Seelsorge boomt und liegt mir sehr am Herzen. Ich halte es für wichtig, das digitale Gut zu nutzen, um über Kirche zu informieren und über Religion zu sprechen.