Sprechen, Schmecken, Lecken, Küssen, Zeigen: Die menschliche Zunge ist der soziale Muskel schlechthin. Aber sie macht oft, was sie will. Wie nicht zuletzt der Internationale Tag des Zungenbrechers zeigt.
Dass Fischers Fritze frische Fische fischt und der Kaplan Pappplakate klebt, dürfte den meisten Deutschen bekannt vorkommen. Dass am Sonntag der internationale Tag des Zungenbrechers begangen wird, weiß dagegen vermutlich kaum jemand.
Zungenbrecher ähneln einer steilen Slalom-Piste im Wintersport: Wer sie ausprobiert, kann jederzeit stolpern und einfädeln, fängt sich vielleicht wieder oder verliert vollkommen das Gleichgewicht. Sportlicher Ehrgeiz ist genau so gefragt wie Mut zum Scheitern und Spaß am Hindernislauf.
Auf die Spitze getrieben hat diese Kunst der Humorist Loriot, der – ein seltsamer Zufall – an diesem Zungenbrecher-Sonntag 100 Jahre alt geworden wäre. Und zwar mit der von Evelyn Hamann vorgetragenen Zusammenfassung einer englischen Krimiserie, in der “Gwyneth Molesworth nach North Cothelstone Hall zurückfährt, aber nicht über Maddle. Middle Addlethorpe, thondern über North Thurston, Thrumpton Castle, Middle Fritham und Nether Addlethorpe”. Das bringt den Zungenmuskel an Grenzen.
Zungenbrecher werden auch in der Sprecherziehung und als Artikulationsübung für Berufssprecherinnen und -sprecher eingesetzt, wie die Gesellschaft für Deutsche Sprache betont. Die Artikulationsmuskulatur in Mund, Zunge und Lippen wird beweglicher. Empfohlen werden Zungenbrecher auch für den Schulunterricht, speziell für Kinder, die Deutsch als Fremdsprache lernen. Zum Spaß am Sprechen kommt dann auch das spielerische Vokabellernen und das Gefühl für den Sprachrhythmus.
Wer Zungenbrecher übt, macht sich vielleicht auch Gedanken über dieses seltsame Körperteil, das in aller Munde ist, aber doch ein Schattendasein führt: die Zunge. Sie ist biegsam, kann sich falten und rollen. Sie reckt und streckt sich. Bei der Bildung von Konsonanten und Vokalen vollführt sie artistische Leistungen.
Tatsächlich handelt es sich um ein ganzes Muskelpaket, das von hinten nach vorne, aber auch in Links-rechts-Richtung und von oben nach unten verläuft. “Dank dieser muskulären Dreidimensionalität ist die Zunge das beweglichste Organ des menschlichen Körpers”, schreibt Literaturwissenschaftler Florian Werner in seinem jüngst erschienenen Essay “Die Zunge. Ein Portrait”.
Dazu kommt, dass sich auf und unter der Zunge Speicheldrüsen und winzige Geschmacksknospen befinden. Sie können mindestens fünf verschiedene Qualitäten unterscheiden: süß, sauer, salzig und bitter sowie die erst Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte Geschmacksrichtung umami, die sich als “herzhaft” umschreiben lässt.
“Die Zunge ist ein tückisches, ein trickreiches Wesen”, schreibt Werner. “Obwohl sie anatomisch nur wenige Zentimeter vom Gehirn entfernt ist, das doch eigentlich ihre Bewegungen und Regungen kontrollieren sollte, scheint sie bisweilen ihre eigenen Absichten zu verfolgen – und zwar bevorzugt solche, die dem Willen des Zungeninhabers zuwiderlaufen.”
Großhirn an Zunge: Die Zunge zeigt sich gern zur Unzeit, sie verplappert sich, hat ihren eigenen Kopf. Wenn die Wörter nicht so kommen wie sie sollen, hat man eine schwere Zunge oder gar einen Knoten in der Zunge. Wer nicht die passenden Worte findet, dem liegen sie auf der Zunge. Wer etwas Unpassendes sagt, der hätte sich lieber auf die Zunge gebissen. Und wer sich verplappert, dem rät man: Hüte deine Zunge, oder: Halte deine Zunge im Zaum. “Die Zunge ist uns das Eigenste und Fernste zugleich”, schreibt Werner. “Sie ist ein Teil unseres Selbst und gleichzeitig ein eigenständiges Wesen.”
Zunge zeigen galt jahrhundertelang als verpönt. Wurde das Innere des menschlichen Körpers in Sagen, Mythen und Religionen als Ebenbild der Unterwelt beschrieben, wurden Mundraum und Zunge als Eingangstor zu diesem Schreckensreich interpretiert. Auf mittelalterlichen Bildern werden nur Monster, Fabelwesen, Teufel, Betrunkene und Narren mit herausgestreckten Zungen gezeigt.
Auch die Bibel zeichnet in manchen Passagen ein nicht gerade positives Bild: Sie hat das Potenzial, Menschen für eine böse Sache zu entflammen, heißt es im Jakobus-Brief. Sie verleitet zur Sünde. Gotteslästerer und Lügner wurden mit dem Abschneiden der Zunge bestraft. Positiver sieht das die Apostelgeschichte: Vom Heiligen Geist erfüllt, reden die Apostel in vielen Zungen. Die Botschaft Jesu übersteigt alle sprachlichen Grenzen.