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“Bevor wir gehen, muss klar sein, wer nach uns kommt”

Ein Unfall, ein Gewaltverbrechen eine Naturkatastrophe – oder Schüsse in einer Schule wie jüngst in Offenburg: In Extremlagen sind neben Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst Notfallseelsorger die Ersten vor Ort. Sie geben Informationen weiter, begleiten Betroffene in einen sicheren Bereich, beruhigen und stabilisieren sie nach dem schockierenden Ereignis.

Notfallseelsorge gehört somit zum Kerngeschäft von Kirche. Gesetzlich sind die Notfallseelsorgenden der Evangelischen Landeskirchen in Baden-Württemberg eingebunden in das Einsatzsystem der Psychosozialen Notfallversorgung des Landes (PSNV). Sie arbeiten eng mit Notfallbetreuern anderer Anbieter, etwa dem Roten Kreuz (DRK) oder der Feuerwehr zusammen.

„Die Kirche allein schafft das nicht mehr“, sagt der evangelische koordinierende Notfallseelsorger für die Ortenau, Roland Deusch. Mit rund 50 Einsätzen im Jahr hätten sich, so Deusch, die Einsätze in zwanzig Jahren mehr als verdoppelt. Im Ortenaukreis bestehe eine enge Kooperation mit dem dortigen DRK.

„Wir arbeiten Hand in Hand“, so Deusch. Rein kirchliche Notfallsysteme gebe es praktisch in keinem Landkreis mehr. Auch am Tag des tödlichen Schusses in einer Offenburger Schule am 9. November waren Mitarbeiter des DRK und der Landeskirche gemeinsam vor Ort.

Vier Mitarbeiter der Kirche und 23 des DRK, davon 16 aus dem Ortenaukreis, bildeten das Einsatzteam. Robert Welle vom katholischen Notfallseelsorgeteam in der Ortenau hatte Dienst und koordinierte den Einsatz. „Wir sind in ganz Baden-Württemberg ökumenisch unterwegs“, betont er den notwendigen Schulterschluss der badischen und württembergischen Landeskirchen mit der Erzdiözese Freiburg und der Diözese Stuttgart-Rottenburg bei derart großen Einsätzen.

Die Qualitätsstandards der Ausbildung für Notfallseelsorger sind denen für Feuerwehrleute angeglichen. Welle selbst durchlief seine Ausbildung vor Jahren an der Landesfeuerwehrschule Bruchsal. „Die Kirche ist einer unserer Player“, sagt die Leiterin der Landeszentralstelle PSNV in Bruchsal an der Landesfeuerwehrschule, Yvonne Künstle.

Im Rahmen des Katastrophenschutzes bietet die Schule Lehrgänge für Führungskräfte in der Notfallbetreuung an. Die Teilnehmer kommen vom DRK, dem Arbeiter Samariter Bund (ASB), der Johanniter-Unfallhilfe, dem Malteser Hilfsdienst, der Feuerwehr und eben auch von den Evangelischen Landeskirchen sowie den katholischen Diözesen. Jährlich würden zwischen 20 und 35 Führungskräfte geschult, sagt Künstle.

Zwischen drei und fünf Stunden verbringe ein Notfallseelsorger vor Ort, erläutert Deusch. „Wir bringen in der Regel so viel Zeit mit, wie notwendig ist“, sagt der Diakon. Unterschieden wird zwischen häuslichen Notfällen wie den Folgen eines Herzinfarktes oder nach einem Suizid und Ereignissen im öffentlichen Raum wie Unfällen oder Bränden.

Wesentlich bei der Notfallseelsorge ist eine lückenlose Betreuung. „Bevor wir gehen, muss geklärt sein, wer nach uns betreut“, darauf legt der Notfallseelsorger Wert. Beistand leisten könne etwa ein Familienmitglied. „Menschen, die kein soziales Netz haben, begleitet ein Mitarbeiter der Kirche oder des DRK“, ergänzt Deusch.

Nachdem er sich einen Überblick über die Lage vor Ort verschafft hat, ist der Notfallseelsorger für die Menschen da. Er hört hin, was das Gegenüber braucht: „Das kann der Kontakt zu Eltern oder Geschwistern sein, ein Spaziergang an der frischen Luft, ein Brötchen holen, mit den Kindern ein Malbuch ausmalen“, beschreibt der Katholik Welle die Bandbreite.

Es gehe darum, Tränen, Klagen und Fragen zum Geschehen auszuhalten, bei christlich sozialisierten Menschen auch ins Gebet zu gehen. „Wir tun alles, was den Moment etwas leichter macht“, sagt der Notfallseelsorger. Die gegenseitige Unterstützung der Einsatzkräfte gehöre ebenfalls dazu. (2755/17.11.2023)