„Die Verantwortlichen müssen ins Handeln kommen, wenn es darum geht, sexuellen Missbrauch aufzudecken und aufzuarbeiten“, sagt Nancy Janz, die selbst von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Im Interview mit uns spricht sie über ihre Erwartungen vor der anstehenden Veröffentlichung der Forum-Studie Ende Januar.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Studie?
Nancy Janz: Es ist gut, dass die Studie endlich erscheint, weil das öffentliche Interesse groß ist. Man möchte den evangelischen Kontext untersucht wissen, nachdem das katholische Pendant der Studie schon längst veröffentlicht ist. Ich bin froh, dass die evangelische Studie breiter aufgestellt ist. Mich interessiert, was typisch evangelisch ist, welche Gefährdungsfelder besonders häufig genannt werden. Und was die Institution Kirche strukturell ändern muss, damit es für Betroffene besser wird.
Welche Erwartungen hat die Öffentlichkeit?
Es werden Zahlen, Daten, Fakten erwartet. Die große öffentliche Frage ist natürlich, ob es in der evangelischen Kirche genauso schlimm ist wie in der katholischen Kirche. Ich denke, dass wir uns zahlenmäßig nicht von der katholischen Kirche unterscheiden. Für mich ist jede Zahl eine zu viel. Jede Zahl, jede einzelne Geschichte und damit jeder einzelne Mensch muss gesehen werden, damit wir alle dieses Ausmaß wirklich begreifen. Und das wird für alle bitter werden, denn auch die Zahlen, die uns in der Studie genannt werden, sind nur die Spitze des Eisberges.
Hat sich die evangelische Kirche bisher versteckt?
Das würde ich so nicht sagen. Mit der Veröffentlichung kann die EKD sich nicht mehr aus der Verantwortung nehmen. Solange der Fokus eher auf der katholischen Seite lag, war es einfacher, im Windschatten zu segeln und alten Mustern von nicht hinschauen, helfen und handeln zu folgen.
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Was wird die Studie ans Licht bringen?
Leider kann ich den Vorhang nicht lüften, weil wir vom Beteiligungsforum bisher auch keine Informationen haben.
Welche Vermutungen haben Sie in Bezug auf Betroffenenzahlen? Wie dramatisch wird das sein?
Jede einzelne Zahl ist dramatisch genug. Ich gehe davon aus, dass die Zahlen durch die Erkenntnisse der ForuM-Studie noch einmal deutlich steigen. Denn bei der Untersuchung wurden alle Personalakten gesichtet, von vor 30, 40, 50 Jahren, wo die Fälle noch nicht unter dem Stichwort „sexualisierte Gewalt“ eingeordnet wurden, sondern zum Beispiel unter Ehebruch. Das sind Fälle, die nicht offiziell gemeldet wurden, in denen es nur einen Vermerk gab und die nun neu beurteilt wurden.
Welche evangelischen Besonderheiten könnten in der Studie zur Sprache kommen?
Vermutlich gehört zu den Ergebnissen, dass die evangelische Kirche liberaler mit Nähe und Distanz umgeht als die katholische Kirche und dass dadurch Missbrauch begünstigt wird. Das Gemeindehaus und das Pfarrhaus werden als Tatort sicher in den Fokus rücken. Die großen Gefährdungsfelder in der evangelischen Kirche sind da, wo die Grenzen allzu oft verschwimmen, zum Beispiel beim freundschaftlichen, kumpelhaften Umgang miteinander.
Ein besonderes Problem der evangelischen Kirche könnte auch die Nähe von Amts- und Leitungspersonen untereinander sein. Da heißt es oft, ich kann mir das bei dieser Person überhaupt nicht vorstellen, und deswegen glaube ich der betroffenen Person nicht. Da gibt es leider viele Verwicklungen. Aber das sind nur Annahmen.
Welche Empfehlungen könnte die Studie geben?
Ich hoffe sehr, dass eine der Empfehlungen sein wird, dass die Institutionen selbst aktiver werden. So hätte es auch in meinem Fall sein sollen. Wenn ich nicht aktiv geworden wäre und mich 2022 an die Presse gewandt hätte, dann hätte meine Landeskirche Hannovers nichts unternommen. Und das höre ich auch von anderen Betroffenen. Wenn Betroffene nicht Druck machen, dann passiert oft nicht viel. Die Institution braucht den Willen zu Aufklärung und Aufarbeitung, um glaubwürdig zu sein.
Die Landeskirchen scheinen mit ihrer Aufarbeitung recht zufrieden zu sein. Wie sehen Sie das?
Wenn es darum geht, allen gemeldeten Fällen nachzugehen, dann mag dieses Urteil berechtigt sein. Aber die Kommunikation mit den Betroffenen ist oft unbefriedigend. Die steht und fällt mit den Verantwortlichen. Mitgefühl allein genügt da nicht. Man muss auch ins Tun kommen. Deswegen sind die Fachstellen gegen sexualisierte Gewalt wichtig, die viele Landeskirchen eingesetzt haben. Sie fungieren als Schnittstellen und sorgen mit ihrem therapeutisch geschulten Personal für bessere Kommunikation.
Auf Leitungsebene ist das Thema sexualisierte Gewalt überall auf dem Tisch. Aber das heißt noch lange nicht, dass es in die Fläche kommt. Es hat immer mit dem Menschen vor Ort, mit der Haltung zu tun. Das ist der große Hinkefuß.
Vor Kurzem haben Diakonie und EKD einheitliche Standards bei der Aufarbeitung beschlossen. Ist das ein Qualitätssprung?
Definitiv. Mit den regionalen Aufarbeitungskommissionen werden erstmals Stellen eingeführt, an die sich Betroffene wenden können, die mit der Aufarbeitung ihrer Landeskirche unzufrieden sind. Für Betroffene sind das gute Nachrichten.
Nancy Janz (44) hat als Jugendliche in Celle sexualisierte Gewalt erfahren. Heute engagiert sie sich im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD. Sie ist bei der Bremischen Evangelischen Kirche als Inklusionsbeauftragte angestellt.