Artikel teilen

“Besser du gehst und stirbst”

Dokumentationen und Reportagen über Lepra-Kranke in Entwicklungsländern gibt es etliche. „Die meisten Filme sind sehr auf das Klinische und Wissenschaftliche ausgerichtet“, sagt der in Berlin lebende Filmemacher James Higginson. Manchmal geht es auch um die soziale Stigmatisierung der Betroffenen. Sein neuer Film „Shuddhi“ will aber noch eine andere, emotionale Botschaft senden: „Lepra ist heilbar! Wir brauchen mehr Aufklärung und Inklusion.“ Die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe DAHW will ihn künftig nutzen.

„Shuddhi“ ist keine klassische Doku, es ist schon fast ein poetischer Film: Higginson lässt einen verstorbenen Großvater aus dem Off mit seinem Enkel sprechen – dieser „Baba“ erzählt von seiner Zeit in einer Art Ashram, also einer klosterähnlichen Anlage, für Lepra-Kranke. Zwischen diesen Passagen kommen Lepra-Betroffene zu Wort, die ebenfalls abgeschieden, oder besser: isoliert in einem Ashram leben. Sie erzählen in wenigen Worten ihre Lebensgeschichte, oft sind es Erzählungen von Einsamkeit und dem Gefühl des Ausgestoßenseins.

Neben den teils schweren körperlichen Folgen, die eine Infektion mit dem Lepra-Bakterium auslösen kann, ist es vor allem die soziale Ächtung, die den Betroffenen zu schaffen macht. Weltweit gibt es 5,2 Millionen Lepra-Betroffene, die Dunkelziffer könnte noch höher liegen. Das Gros dieser Menschen lebt in Indien – wie auch die Protagonisten im Film „Shuddhi“. Sie verbringen tagtäglich in dem staatlichen Ashram, das offiziell eine Lepra-Klinik ist. Mit den westlichen Vorstellungen von Krankenhaus freilich hat dieses Ashram nichts gemein.

„Ich bin zufällig auf dieses Ashram und die Menschen dort gestoßen“, sagt Higginson, der in Berlin als Dozent für Bildende Kunst und Kunstfotografie arbeitet. Nach einer Studienreise mit seinen Studierenden nach Indien macht er sich noch alleine auf die Reise – und landet zufällig in einer Frühstückspension, deren Chef sich am Wochenende ein wenig um die Ashram-Bewohner kümmerte und ihnen Essen brachte. Das war im Jahr 2010, damals entstanden erste Fotos: „Ich wusste sofort, ich muss dorthin zurück und einen Film machen.“

Beeindruckt habe ihn von Anfang an die Demut, mit der die Betroffenen ihr Schicksal angenommen hätten. Und das, obwohl die einzelnen Leidensgeschichten teilweise brutal sind. Eine Frau beispielsweise wurde von ihrem Ehemann verstoßen, als sie erste Lepra-Symptome zeigte. Ein Mann musste als Heranwachsender mit seiner alleinerziehenden Mutter ins Ashram, weil diese Lepra hatte – und steckte sich dort an. Andere verloren ihren Job, wurden aus ihren Dörfern verjagt: „Besser du gehst und stirbst“, sagte man einer zum Abschied.

Higginson geht es in seinem Film um diese persönlichen Geschichten – und das große Ganze. „Seit 1982 gibt es eine wirksame Therapie gegen Lepra. Seit mehr als 40 Jahren gibt es Medikamente! Und trotzdem ist es bis heute nicht gelungen, diese Krankheit auszurotten!“ Das liegt vor allem an der Stigmatisierung. Wer als Betroffener in Indien erste Symptome erkenne, versuche oft zuerst, sie zu verstecken. Weil die Inkubationszeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch Jahrzehnte dauern kann, verbreitet sich Lepra unerkannt weiter.

Hauptgrund für die Stigmatisierung, da sind sich alle Experten für vernachlässigte Tropenkrankheiten wie Lepra einig, ist das geringe Wissen über die Hintergründe – etwa darüber, dass Lepra gar nicht so ansteckend ist, wie viele glauben. „Ich will mit meinem Film aufklären“, sagt Higginson. Deshalb thematisiert er auch, dass man die Krankheit gut heilen kann. „Was die Betroffenen am meisten brauchen, ist, dass sie weiter Teil der Gesellschaft bleiben dürfen. Wir müssen die Lepra-Betroffenen wieder zurück in unsere Mitte holen.“

Ein Auftrag, den sich auch Nichtregierungsorganisationen wie die DAHW – neben der Behandlung von Lepra-Patienten – auf die Fahne geschrieben haben. Deshalb soll der Higginson-Film künftig auch in der Bildungs- und Aufklärungsarbeit der DAHW genutzt werden. So zum Beispiel am 21. November in Würzburg bei der Deutschlandpremiere von „Shuddhi“ im Würzburger Programmkino Central. „Das Wichtigste ist, dass wir über das Thema reden, dass wir es aus dem Verborgenen holen“, findet der Berliner Filmemacher.

Seinen fertigen Film hat Higginson auch seinen Protagonisten aus dem indischen Ashram gezeigt. „Wenn ich daran denke, habe ich noch immer Gänsehaut“, erzählt er. Denn die größtenteils geheilten Lepra-Betroffenen seien dankbar, dass sie mit ihrer Mitwirkung „Teil der Lösung des Lepra-Problems“ werden könnten. „Wenn wir dadurch, dass wir unsere Geschichte erzählt haben, verhindern können, dass es andere nicht so trifft, wie es uns getroffen hat, ist es gut“, habe ihm einer der Männer aus dem Ashram gesagt. (00/3359/08.11.2024)