Noch ist es ein wenig schwierig, zur Emmaus-Kirche in Kreuzberg zu gelangen. Die nahe U-Bahn-Station Görlitzer Straße ist zur Skalitzer Straße hin von Absperrzäunen umzingelt; an der Vorderfront von Emmaus am Lausitzer Platz ist es ähnlich. Fast der komplette vordere Teil der Kirche ist eingezäunt, bestätigt Pfarrerin Rebecca Marquardt und deutet aus dem Fenster ihres Büros im zweiten Stock des Kirchenbaus. Dessen Turm wurde saniert, weil es allerlei Schäden gab, etwa Dachziegel, die locker saßen. Ein Ende der Baumaßnahmen ist absehbar, wenn auch noch nicht zum Festgottesdienst, der für den 27. August 2023 geplant ist.
Die Emmaus-Kirche wird dann ihren 130. Geburtstag feiern. Nach der – für heutige Zeiten atemberaubend schnellen – Bauzeit von drei Jahren wurde die Emmaus-Kirche am 27. August 1893 ihrer Bestimmung übergeben. Nach einem alliierten Luftangriff im Februar 1945 brannte das Kirchenschiff aus, nur der Turm blieb erhalten. Die evangelischen Christinnen und Christen der Gemeinde versammelten sich nach der Zerstörung während des Krieges für ihre Gottesdienste in Luftschutzbunkern. Ende der 1950er Jahre wurde ein neues Kirchenschiff eingeweiht und 30 Jahre später wurde der Kirchturm für Gemeindeaktivitäten und Büros umgebaut. Eine reich illustrierte Stellwand, die im Foyer des Kirchengebäudes steht, erzählt die Geschichte von Aufbau, Zerstörung, Wiederaufbau und Funktionswandel der Kirche wie eine Geschichte der ganzen Stadt Berlin, in deren Mitte sie zu Hause ist.
Mehrere Fusionen
In einem dieser Büros empfängt Rebecca Marquardt ihre Besucher, wenn sie nicht gerade in der weitverzweigten Evangelischen Kirchengemeinde Kreuzberg unterwegs ist, zu der die Emmausgemeinde mit ihrer Kirche gehört.
Sie hat in der jüngsten Vergangenheit gleich mehrere Fusionen durchlebt, zunächst hat man sich 1995 mit der benachbarten Ölberggemeinde zusammengetan, seit eineinhalb Jahren ist Emmaus Teil der Evangelischen Kirchengemeinde Kreuzberg. Hintergrund der Fusionen war und ist der Rückgang von Kirchenmitgliedern. Daraus resultiert der Zwang zu Einsparungen und die Frage: „Was soll eigentlich mit unseren Kirchengebäuden geschehen?“ Denn im Hinblick auf die Mitgliederzahlen unterscheidet sich Berlin-Kreuzberg nicht vom gesamten Kirchenkreis Berlin-Mitte: Was Kirchenaustritte angeht, ist die Berliner Innenstadt eine Art Lackmustest für das, was auf Deutschlands Gemeinden, Kirchenkreise und Landeskirchen zukommt.
Zur fusionierten Großstadtgemeinde Kreuzberg gehören heute immerhin drei ehemalige Gemeinden mit fünf Kirchengebäuden. Peu à peu geht es darum, diesen Standorten und ihren Gotteshäusern, die mehr und mehr überdimensioniert sind, um „nur“ klassische Gottesdienste anzubieten, neue und andere Funktionen zuzuweisen – auch solche, die sich rechnen. Die Emmaus-Kirche wird zum Verwaltungszentrum der Evangelischen Gemeinde Kreuzberg. Es gibt Vorhaben, auf einem Grundstück neue Wohnungen zu errichten.
So könnte der inoffizielle Name, den die Emmaus-Kirche bei Insidern hat, mit Leben gefüllt werden: „Wir nennen sie auch ‚Kirche am Markt‘“, sagt Rebecca Marquardt. Denn schräg gegenüber der Kirche war einst eine ausladende Markthalle mit Platz für 300 Marktstände.
In der heutigen „Markthalle 9“ gibt es eine umstrittene Mischung aus vielen „hippen“ und wenigen klassischen Warenangeboten. Dennoch: Die Kirchengemeinde hat ein gutes Verhältnis zu den Eigentümern. So feiert sie unter anderem dort jedes Jahr am 24. Dezember ihren Hauptweihnachtsgottesdienst um 17 Uhr. Märkte leben von Angebot und Nachfrage, von Innovation und Hergebrachtem, von Wechsel und Anpassung, Kommen und Gehen. Diese Merkmale treffen auch auf das Gemeindeleben rund um die Emmaus-Kirche zu, deren Angebote in Verkündigung, Diakonie, Seelsorge und Kultur nicht für immer in Stein gemeißelt sind. Auch Emmaus muss sich immer wieder neu erfinden.
Großstädtische Kulturvielfalt
„In unserer Kirche ist – zumal an den Wochenenden – immer was los.“ Klassische und innovative Kirchenmusik wechselt sich mit „weltlichen“ Angeboten ab, für die der Innenraum fremdvermietet wird.
Diese großstädtische Kulturvielfalt mag dazu beitragen, dass der Gottesdienstbesuch an den Sonntagen erstaunlich rege ist – im Schnitt 40 Besucher sind die Regel. 90 Frauen und Männer singen im Chor, auch der Posaunenchor findet immer wieder Nachwuchs.
Gottesdienste mit Kirchenmusik gehören zwar zum Markenkern des Evangelischen, aber sie sind nicht alles. Besonders die Corona-Pandemie hatte, ähnlich wie in anderen Kirchengemeinden, Folgen, die bis heute anhalten: Das Kirchencafé wurde aufgegeben; aber mittwochs und donnerstags gibt es von 10 bis 12 Uhr Frühstücksteller oder warmes Essen für alle, die bedürftig, sozial benachteiligt oder an den Rand gedrängt sind. „Es hat sich gezeigt, dass nicht nur Bürgergeldempfänger und Obdachlose zu uns kommen, sondern auch solche Kreuzberger, die einsam sind und ein bisschen Nachbarschaft genießen wollen. Ihre Zahl steigt zurzeit wieder leicht an“, sagt Pfarrerin Rebecca Marquardt.
Zukunftsfragen angehen
Intensiv wird in den Standorten der Evangelischen Kirchengemeinde Kreuzberg, also auch rund um die Emmaus-Kirche, über Anpassungen und Arbeitsteilungen debattiert. Das gilt zum Beispiel für die Aufgaben von ausscheidenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, deren Stellen nicht neu besetzt werden können. „Wie können wir dennoch die Arbeit mit Kindern sichern und ausweiten, und zwar so attraktiv und innovativ wie möglich?“ Das sind Fragen, mit denen sich Gemeinde, Pfarrer und Gemeindekirchenrat (GKR) in Kreuzberg aktuell auseinandersetzen. Der GKR ist in der nächsten Zeit noch mehr als sonst gefordert und gefragt. Denn die beiden leitenden Pfarrpersonen, neben Rebecca Marquardt auch Christoph Heil, wechseln in Mutterschutz und Elternzeit – nachdem am kommenden Sonntag die Christen rund um Emmaus einen Gottesdienst in Erinnerung daran feiern, dass ihre Kirche vor 130 Jahren eingeweiht wurde.
Am 27. August feiert die Gemeinde ab 11 Uhr in einem Zentral- und Festgottesdienst das 130. Jubiläum der Emmaus-Kirche mit Abendmahl. Die Predigt hält Pfarrerin Rebecca Marquardt. Ingo Schulz an der Orgel sowie der Posaunenchor sorgen für die musikalische Gestaltung.
Uli Schulte Döinghaus ist freier Autor