Es ist ein Kampf um die Seelen – aber auch um politische Macht. Die Evangelikalen sind derzeit die wohl am dynamischsten wachsende christliche Bewegung weltweit. Ihr Einfluss ist groß.
Das Christentum in vollem Aufschwung? Dieser Trend stützt sich nicht auf die katholische, evangelische oder orthodoxe Kirche – er ist der weltweiten Bewegung der Evangelikalen geschuldet. 660 Millionen Menschen gehören dieser Strömung an, heißt es in einer Dokumentationsreihe von Thomas Johnson und Philippe Gonzalez, die der deutsch-französische Kulturkanal Arte seit 1. Juli online und am 15. Juli im TV zeigt.
Massengottesdienste, Massentaufen, charismatisch predigende Geistliche und euphorisch betende Gläubige: Der Dreiteiler unter dem Titel “Evangelikale – Mit Gott an die Macht” befasst sich nicht nur mit den religiösen Aspekten dieser derzeit wohl dynamischsten Strömung im weltweiten Christentum. Es geht auch um den politischen Einfluss der Erneuerungsbewegung, die es nicht nur in den USA in die Schaltzentralen der politischen Macht geschafft hat.
Die Doku macht deutlich: Die Wurzeln dieser Bewegung liegen in der Reformationszeit und der Gründungsphase der USA. Baptisten, Mennoniten und Puritaner wanderten wegen Verfolgung in Europa in die neu entdeckten Gebiete Amerikas aus, um ihre Version des christlichen Glaubens leben zu können. Allerdings: Auch in “the land of the free” gab es Glaubensspaltungen, Konkurrenz und Intoleranz: Liberale und soziale Strömungen der Evangelikalen bildeten sich ebenso heraus wie fundamentalistische und sich gegen Moderne, Sittenverfall und Materialismus abschottende Strömungen.
Als Stützpfeiler aller evangelikalen Richtungen definiert die Dokumentation vier Prinzipien: die individuelle Bekehrung, die Unfehlbarkeit der Bibel, den Glauben an den Sühnetod Jesu und die aus diesem Opfer folgende Pflicht, für den christlichen Glauben zu missionieren.
Mit dem Zweiten Weltkrieg und dem folgenden Kalten Krieg gewinnt die evangelikale Bewegung eine ganz neue Bedeutung, so die Dokumentation. “Am Anfang war Billy Graham”, betonen die Autoren. Mit der kurz nach Kriegseintritt der USA gegründeten National Association of Evangelicals als Dachorganisation 1942 und der Führung durch den charismatischen Erweckungsprediger Graham (1918-2018) gewann die christlich-konservative Bewegung eine ungeheure Dynamik: Der von Graham ausgerufene “große Kreuzzug” gegen Materialismus, Dekadenz und säkulares Denken faszinierte Massen weltweit. Das “Maschinengewehr Gottes” lockte Zehntausende in Stadien und Hallen, auch in Europa.
Graham, den der Dreiteiler als “Papst der Evangelikalen” charakterisiert, gewann Zugang zu mehreren US-Präsidenten, begründete das noch heute bestehende Nationale Gebetsfrühstück und sorgte 1956 mit dafür, dass alle US-Dollar-Noten und Münzen mit dem Spruch “In God we trust” (Auf Gott vertrauen wir) versehen wurden. Allerdings grenzte sich der Baptist vom radikalen christlichen Fundamentalismus ab.
Ab den 1970er Jahren war die Säkularisierung Amerikas den evangelikalen Anführern zunehmend ein Dorn im Auge. Archivbilder und Interviews mit Aussteigern verdeutlichen diesen Wendepunkt der Bewegung. Extremere Fernseh-Missionare wie Jerry Falwell oder Francis Schaeffer gewannen die Oberhand. In den 1980er Jahren radikalisierte sich der Diskurs um Familie, gegen Abtreibung und sexuelle Vielfalt weiter und verhalf Ronald Reagan ins Weiße Haus. Die Grenzen zwischen Religion und Politik wurden durchlässiger.
Bis heute hält sich in den USA eine mächtige politisch-religiöse Lobby, die die Politik von George W. Bush bis Donald Trump mitbestimmt. Trump trägt sehr aktiv zum Wiedererwachen eines christlichen Nationalismus bei. 2017 erkannte er Jerusalem als Hauptstadt Israels an – ein Schritt, der ihm in den Augen vieler Evangelikaler eine fast biblische Statur verlieh. Außerdem wurden drei ultrakonservative Richter am Obersten Gerichtshof der USA ernannt. Dies führte bereits dazu, dass das Recht auf Abtreibung gekippt wurde.